Mein letzter Flug. Franz Fuhmann

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Mein letzter Flug - Franz  Fuhmann

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Märchens leise ins Schweigen fallen, fiel mit sanftem Gepink ein Ball nach dem andern in die hohle Rechte; noch einmal erhob sich die Hand und zeigte zwischen je zwei Fingern je eines der Bällchen, dann wischte die Linke, ohne die Rechte zu berühren, mit lässigem Schwung durch die Luft und löste die Bällchen auf: Verschwunden, sie waren verschwunden, die Rechte war offen und leer wie die Linke, sie zeigten Innen- und Außenfläche, und dann lächelten sie, die Hände lächelten ob dieses Wunders, und der Mann verbeugte sich tief. Ich klatschte wie besessen. »Ich dank Ihnen auch schön, junger Herr, daß Sie mir die kleinen Vogerln geliehn haben«, sagte, rasch auf mich zuschreitend, der Mann, »belieben S’ nur in Ihre Rocktaschen zu greifen!« Meine Hände fuhren in die Taschen. Das Wunder war vollkommen: In jeder meiner Taschen lagen zwei Bällchen. Für einen Augenblick kam mich ein Grauen an, aber nur für einen Augenblick: Der Wundertanz war so beglückend, schön gewesen, daß dieser Mann kein böser Zauberer sein konnte. Hätte er von mir verlangt, mich fesseln und mir die Augen verbinden zu lassen, ich hätte mich ruhig und ohne den geringsten Argwohn in seine Hände begeben. Aber dieses verlangte er nicht von mir; er, der jetzt alles hätte fordern können, begann wieder zu bitten, und allmählich wurde mir klar, was er von mir wollte. Mein Vater, so bat er, möge ihm doch die Gelegenheit geben, dem Kinopublikum heute abend vor dem Beginn der Vorstellung seine Künste zu zeigen, und ich solle bei Vater ein gutes Wort für ihn einlegen. »Ach, gnädiger junger Herr«, so sprudelte er, »wenn ich die Kollekte bekäm, junger Herr, ein bissel ein Kapital in die Hand, und wenn’s noch so winzig wär, aber es wär halt doch ein Anfang; ich bräuchte zwei Reifen, ich bräucht auch ein Hemd und eine Krawatte, Sie ahnen ja gar nicht, junger Herr, was das hermacht, ein bissel ein gutes Aussehen. Wenn jeder nur ein paar Heller gibt, es käme doch was zusammen; eine Kinoeröffnung, das hat’s doch nicht alle Tage, es wär meine Chance, junger Herr, meine Chance, meine Chance – ich flehe Sie an!«

      Ich führte ihn, was mir strikt verboten war, in die Küche und schnitt ihm meinen Anteil vom Schweinebraten herunter, häufte Knödel und Kraut über das Fleisch und füllte dem Mann, der hemmungslos schlang, noch zweimal den Teller nach. Meinen Vater, der frohgemut von einem wider Erwarten rasch genesenden Patienten heimkam, brauchte ich dann nicht lange zu bitten. Er konnte in guten Augenblicken für Künstler und sogar für fahrendes Volk etwas übrig haben; er fühlte sich selbst als Malerpoet (er malte sonntags Berg- und Wiesenstücke und hatte ein Opernlibretto »Die Schwanenjungfrau« geschrieben), und meine enthusiastische Schilderung rührte ihn dermaßen, daß er, der sonst so herrisch Strenge und unerbittlich Strafende, mir meine groben Verfehlungen (daß ich den Mann in die Küche geführt hatte, verschwieg ich) verzieh und mir sogar erlaubte, der Vorstellung des Zauberers und dem ersten Akt des Films heute abend beizuwohnen. »Du hast zwar etwas höchst Unerlaubtes getan, das dich das Leben hätte kosten können, und ich hätte dich eigentlich mit vierzehn Tagen Hausarrest bestrafen müssen«, so sprach er, »aber da sich nun alles zum Glücklichen gewandt hat, wollen wir das Glück dieses Tags nicht mehr trüben!« Dann sagte er, daß jeder Mann, so auch dieser Gaukler, das Recht auf eine faire Chance im Leben habe, und ich fragte ihn, was ich den Zauberer nicht hatte fragen wollen, nämlich was für ein Ding solch eine Chance denn eigentlich sei, ich kannte ja bisher nur die Schanzen zum Skispringen. »So etwas Ähnliches ist es auch mit der Chance im Leben«, erklärte mein Vater, »es ist die Möglichkeit, einen Menschen zeigen zu lassen, wie weit er es bringen könnte. Und diese Chance geben wir ihm!« Ich war unsagbar stolz auf meinen Vater. »Wir geben ihm eine Chance«, hatte er gesagt. Wir – das waren er und ich. Wir saßen im Herrenzimmer in den schweren Lederklubsesseln am bronzegetriebenen Rauchtisch, und Vater paffte seine Havanna, und ich schnupperte den Duft ein und war erwachsen und gab ihm, dem Zauberer, eine Chance, und dies Innen hier war jetzt die Insel der Träume, und tief im Sessel liegend und gerade noch meines Vaters mahnende Worte, ich solle mich doch nicht so bauernhaft hinlümmeln, vernehmend, nickte ich vor Erschöpfung ein.

      Am Abend dann war der Kinosaal, ein ehemaliger Lagerraum, mit Gesumm, Parfüm und Knistern gefüllt; an den blaßblau gestrichenen Wänden hingen in ovalen Rahmen Bilder lächelnder Frauen und strahlender Männer, und die Vorderwand des Saales war zur Gänze mit einem Vorhang überzogen, der in allen Farben des Regenbogens flimmerte. Die Vorstellung war ausverkauft; wer zur guten Gesellschaft des Städtchens gehörte, war gekommen, und ich war das einzige Kind, das dabeisein durfte, das einzige Kind von Hunderten, noch nicht einmal der gleichaltrige Sohn des Bürgermeisters war da. In diesen Minuten hätte ich mich für meinen Vater ans Kreuz schlagen lassen. Ich suchte meinen Schützling, den Zauberer, dem wir eine Chance geben würden, aber ich sah ihn nicht. Der Klavierspieler spielte einen Marsch, dann trat mein Vater vor, stützte sich leicht auf den Flügel und hielt, die Linke in der Rocktasche, eine kurze Rede: Es zeuge vom unsagbaren Kunstsinn des lieben Heimatstädtchens, so sprach er, daß es in dieser so schweren Wirtschaftskrise der Musen gedenke und ihrer jüngsten Gefährtin, Kinematographeia, einen schmucken Tempel zur Freude, Unterhaltung und Erbauung all seiner Bürger errichtet habe, und dann hämmerte der Klavierspieler einen Tusch, und mein Vater erklärte, er glaube im Sinne aller Anwesenden zu handeln, wenn er einem begabten, auf der Durchreise befindlichen Artisten die Möglichkeit gebe, gegen ein geringes, in jedermanns Ermessen gelegtes Douceur seine Künste zu zeigen, und dann bewegte sich der prächtige Vorhang, und mein Schützling trat vor und verbeugte sich, jedoch nicht so tief wie mittags vor mir. Ich saß neben Vater in der ersten Reihe, die damals bei uns noch als Vorzugsplatz im Kinotheater galt; mein Schützling stand mir einen knappen Meter gegenüber, und ich nickte ihm aufmunternd zu. Das Publikum klatschte generös; mein Schützling verbeugte sich ein zweites Mal, dann schien mir, als gebe er sich einen Ruck; sein Gesicht, das mir nun irgendwie sonderbar verändert erschien, wurde gespannt, und nun schwangen auch seine Arme aus, doch er griff nicht, wie ich erwartet hatte, ins Nichts des Tarnkappenfachs neben seiner Schulter, er griff in die linke Rocktasche und holte ein Bällchen heraus und aus der rechten ein zweites, und das dritte stülpte er, während er die beiden Bällchen von Hand zu Hand warf, zu meinem Erstaunen nicht aus dem Mund, sondern holte es aus dem am Hals geöffneten Hemd, und obwohl er sich mit nur drei Bällchen zu begnügen schien, verfehlte er einen Ball, so daß dieser, und sofort darauf die anderen, flügellahm niederfielen und durch den Saal kollerten. Der Jongleur wurde kalkbleich, und ich fühlte einen Stich durchs Herz. »Na, na, na, nur nicht so aufgeregt, das kann schon mal vorkommen«, sagte mein Vater beruhigend, und er sagte es laut, und meine junge, kaum fünf Stunden alte Liebe zu ihm wurde Inbrunst. Eines der Bällchen war mir vor die Füße gerollt; der Mann bückte sich nach ihm; er kniete fast vor mir, und nun sah ich, daß ihm der Schweiß in großen Tropfen auf der Stirn stand und daß seine Hände zitterten und daß er, und ich sah es beinah angeekelt, nur mit Mühe ein heftiges Rülpsen unterdrückte. Das Publikum blieb, von ein paar Kichern abgesehen, trotz dieses Fehlschlages wohlwollend ruhig, und es blieb auch nobel, als ein zweiter Versuch ebenso mißlang wie der erste, und auch ich blieb ruhig, ich hatte festes Vertrauen zu meinem Zauberer, ja, ich war überzeugt, daß er sich jetzt nur so ungeschickt stelle, um plötzlich das Publikum mit einem Wunder ohnegleichen zu überraschen. Ich glaubte an ihn, der sich nun wieder vor mir bückte, um abermals einen weggerollten Ball aufzuheben; ich glaubte an ihn und sah ihm fest in die Augen: ich wollte, daß er mich sehe und daß er fühle, wie unerschütterlich ich an ihn und seine Kunst glaubte, und nun sah er, das Bällchen in der Hand, auch mich an, und ich lächelte ihm zu, und er versuchte, das Lächeln zu erwidern, und da sah ich entsetzt, daß dieses sein Lächeln eine arme hilflose Grimasse war, eine Maske vor einer Angst ohnegleichen, und obwohl ich gar nichts begriff und vollkommen ratlos war, fühlte ich, und dies mit unumstößlicher Gewißheit, daß dieser Zauberer in Wirklichkeit gar kein richtiger Zauberer war und daß etwas Schreckliches – der Begriff des Peinlichen war mir noch unbekannt – sich ereignen werde, und da überflutete mich, ein siedender Strom, die grelle Scham. Denn er war ja mein Schützling; ich war es ja gewesen, der ihn Vater empfohlen hatte, auf daß dieser ihn, meinem Zeugnis vertrauend, dem Publikum weiterempfehle, und so wurde jede Blamage des Mannes, die dem Publikum als Blamage meines Vaters erscheinen mußte, in Wirklichkeit meine Blamage, und ich schämte mich ihrer fast zu Tode und schämte mich, meinen großartigen Vater in eine so üble Situation gebracht zu haben, und dachte, daß es jetzt wohl meine Pflicht sei, aufzustehen und, um meinen Vater zu rechtfertigen, all dies zu offenbaren, und als des Mannes flatternde Hände nun ein drittes Mal die Bälle verfehlten, hätte ich aufspringen und ihn am Kragen

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