Neue Zeiten - 1990 etc.. Stefan Koenig

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Neue Zeiten - 1990 etc. - Stefan Koenig Zeitreise-Roman Band 7

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      „Opa ist tot“, sagte Karola traurig.

      „Ja, es geht ihm jetzt aber gut“, tröstete sie Emma. Mein Vater war nach einem Herzversagen vor einem halben Jahr verstorben. Es klingelte und klopfte an der Wohnungstür. Es war Sonntagvormittag. Das konnte nur Lollo sein.

      Ich ging hin, öffnete und kam mit meiner Mutter zurück. Lollo bot sich an, mit den Kids zum Spielplatz zu gehen. Die Bezeichnung Kids kam gerade in Mode und so flötete es aus mir heraus: „Die Kids könnten mit Lollo in den Park gehen.“ Emma nickte zustimmend, und wir zogen Karola und Luca an.

      Meine Frau sah mich erwartungsvoll an. Dann wiederholte sie: „Es ist doch eine richtige Sicht: Nur mit ehrlicher Arbeit kann man sein Geld verdienen.“

      „Doch, doch, das meinte ich ja.“ Jetzt bloß keine Missverständnisse, dachte ich. Kein Ehestreit vor meiner Mutter. Wir hatten genügend Belastungen am Hals. Emma hatte sich in die Geschäftsführung der Frankfurter GTU, unserer Umweltbildungs- und Beratungseinrichtung, gestürzt. Sie machte mir in letzter Zeit einen ziemlich nervösen Eindruck. Einen Betrieb von außen zu sehen und zu kommentieren war leichter, als im Betrieb handeln und Entscheidungen treffen zu müssen. Sie musste sich mit den Mitarbeitern abstimmen, Vertrauen aufbauen, Ratschläge entgegennehmen und ohne Besserwisserei Ratschläge erteilen. Das war zweifellos eine andere Hausnummer.

      Und ich hatte zwei Unternehmen zugleich aufzubauen – in Berlin, West wie Ost, und im thüringischem Bad Langensalza. Dazu die Kids und jede Menge Hausarbeit trotz Haushaltshilfe. Wegen Harksen streiten, war das Letzte, was wir heute brauchten. Wir hatten jetzt Urlaub nötig, aber die Umstände ließen es nicht zu. Es hieß durchackern was das Zeug hielt.

      Auch ich brauchte keine unnötigen nervlichen Belastungen, mein Magen hatte in letzter Zeit rebelliert und mit Sodbrennen und gelegentlichen Magenkrämpfen aufgemuckt. In Immobilien spekulieren, nein, das kam nicht in Frage – auch wenn Harksen wie in früheren Zeiten mit über 300 Prozent Rendite winkte.

      Meiner Mutter winkte unser Dank und unsere Anerkennung. Und es winkte ihr ein wenig Ablenkung von ihrer Trauer. Die drei gingen zum Spielplatz. Emma und ich unterhielten uns über Harksen und tranken unseren Kaffee zu Ende. Wir wussten viel zu wenig über ihn, aber genug, um misstrauisch zu sein. Vier Jahre später erfuhr ich von ihm, was er gerade zu jener Zeit erlebte, in dem wir über ihn sprachen.

      Anders als die nigerianische Mafia, griff Jürgen Harksen auf eine subtilere Geschäftsmethode zurück. Aus kleinen Verhältnissen stammend, hatte er instinktiv begriffen, dass sich der westdeutsche Mittelständler, an den er sich traute, mit bunten und teuren Blendgranaten täuschen ließ. So hatte Harksen 1988 einen Porsche geleast. Der Chef der Leasingfirma, Herr Klaus, wurde zu einem seiner guten, treugläubigen Kunden. Als er Harksen den ersten Leasing-Porsche persönlich vorbeibrachte, sagte er: „Herr Harksen, von Ihnen nehme ich keine Anzahlung. Bei Ihrer Bonität wäre das eine Beleidigung.“

      Harksen nickte wohlwollend und wissend, während er in sich hineinschmunzelte. Er dachte daran, dass seine Bonität lediglich auf den Anlagegeldern solcher Leute wie dem Leasing-Chef fußte. Geld, das also eigentlich nicht ihm, Harksen, gehörte. Als Herr Klaus beim Abschied einen Blick nach draußen auf die Straße warf, fragte er den Anlageprofi beiläufig: „Sehen Sie den da?“ Er wies mit dem Finger auf einen 735i BMW, blaumetallic. „Den fahre ich zurzeit selbst. Schickes Auto, nicht wahr?“

      Harksen nickte.

      „Wissen Sie was? Der wär‘ doch sicher was für Ihre Gattin.“

      Da konnte Harksen ihm nicht widersprechen. Den BMW sollte er ebenfalls ohne Anzahlung bekommen. Ein triftiger Grund für Harksen, seine Leasingraten pünktlich zu zahlen. Einige Monate später tauschte er den BMW gegen einen Porsche 911 ein. Eines Tages rief ihn der Leasing-Chef wieder an: „Ich habe einen heißen Tipp für Sie. Ich kann Ihnen aus einem Konkurs nochmal günstig vier Luxusschlitten vermachen. Ich schnür Ihnen einfach ein Paket.“

      Er riet Harksen, pro forma eine Autovermietung aufzumachen und die Autos dann an sich selbst zu vermieten. So konnte Harksen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, denn die Anschaffungs- oder Leasingkosten waren als Geschäftsausgaben absetzbar. Und die Miete, die er an sich selbst zahlen würde, wäre ebenfalls abzugsfähig. Das leuchtete Harksen sofort ein, und so ließ er sich von dem Leasingchef einen Schlitten nach dem anderen aufschwatzen. Bald schon hatte er mehr als fünfzehn Autos und musste eine Halle zum Unterstellen anmieten.

      Mietverträge abschließen, das war für die letzten Tage auch mein Auftrag gewesen. Im Ostteil von Berlin hatten Jan und ich für unsere fünf geplanten Bildungsinstitute einige Großanmietungen getätigt. Es war dringend geworden. Immer mehr Wessis strömten gen Osten und besetzten Terrain. Zwar friedlich, aber mit Geld. Wir durften nicht zu spät kommen, unser Umweltbildungsunternehmen hatte immerhin schon die feste Zusage des Arbeitsamtes erhalten, Schulungsmaßnahmen für DDR-Beamte aus dem Natur-, Umwelt- und Immissionsschutz durchzuführen. Wir sollten im Oktober starten.

      Bisher hatten wir einen teuren Miet-Standort im Technologie- und Innovations-Center im Westberliner Wedding. Ich fuhr nach Berlin, um mit Jan und unserer Geschäftsführerin Katrin weitere ins Auge gefasste Institutsstandorte zu besichtigen und Mietverträge abzuschließen. Als ich nach einer Woche zurück nach Frankfurt kam, hatten wir einen zusätzlichen Standort im Westteil Berlins, in Kreuzberg, sowie drei weitere Standorte im Ostteil preisgünstig gemietet: Adlershof, Weißensee und Marzahn-Hellersdorf. Jan und seine Frau Katrin waren überfreundlich und sehr bemüht gewesen, ihr Engagement zu betonen. Noch schöpfte ich keinen Verdacht.

      In Berlin hatte ich mitbekommen, wie der Wahlkampf tobte. Die neu gegründete DDR-SPD schien das Rennen zu machen. Ihr uneinholbarer Vorsprung gegenüber dem Wahlbündnis der Konservativen war „dank BILD“, wie eine Genossin aus dem SPD-Parteivorstand meinte, ein klein wenig zusammengeschrumpft. CDU-Kanzler Kohl hatte auf die Schnelle einen Bund aus der bis vor Kurzem noch SED-treuen Blockpartei CDU-Ost, dem nach rechts gerutschten »Demokratischen Aufbruch« und dem CSU-Kind DSU, der Deutschen Sozialen Union, gezimmert. Aber die Erfolgs-Chance dieser Sturzgeburt hatte sich – trotz Springers monatelanger BILD-Interventionen – nur unwesentlich verbessert.

      In diesen letzten drei Wochen vor der DDR-Wahl, die auf den 18. März datiert ist, begreift der westdeutsche Kanzler, dass er sein ganzes Gewicht selbst einbringen muss, um die Wählerstimmung im Osten zum Kippen zu bringen. Er geht auf Tour, auch wenn dies dem geltenden DDR-Wahlrecht und dem ausdrücklichen Verlangen der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung widerspricht.

      In Karl-Marx-Stadt tritt er vor 200.000 Menschen auf und gibt kund, dass seine Regierung der DDR keine müde Mark zu geben bereit ist, solange sie von Sozialisten regiert wird. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er der Modrow-Regierung und ihrem mitregierenden „Runden Tisch“ immer wieder Geld in Aussicht gestellt. Es erinnerte mich an eine Möhre, die an einer langen Rute vor den Augen eines Esels geschwenkt wird, um ihn zum Laufen in die gewünschte Richtung zu bringen. In den nächsten Tagen wiederholt Kohl seine Drohung vor Hunderttausenden DDR-Bürgern in verschiedenen ostdeutschen Städten.

      Die Wissenschaftler Artzt und Gebhardt wollen verhindern, dass die DDR-Wirtschaft zerstört und das über vier Jahrzehnte erarbeitete Wirtschaftsgut zu Billigstpreisen verscherbelt wird. Sie wollen, dass das Volkseigentum gerecht verteilt wird und müssen ihre Idee gegen die brachiale und finanzstarke CDU-Wahlkampfmaschine verteidigen. Anteilsscheine sollen die Teilhabe-Chancen der DDR-Bürger in einer zukünftigen Marktwirtschaft sichern.

      Die beiden Bürgerrechtler haben, schon lange bevor die Titanic mit dem Schriftzug »DDR« auf den Eisberg zufuhr, vor dem Eisberg und dem zu erwartenden Aufprall gewarnt. Damals, Ende 1988, spielten noch die Arbeiterschalmaien und es wurde im Palast der Republik getanzt, während die zwei Wissenschaftler sich heimlich als

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