Neue Zeiten - 1990 etc.. Stefan Koenig
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Manchmal werden die beiden Bürgerrechtler von den eigenen Landsleuten erstaunt gefragt: „Was, ich soll was bekommen? Wie viel denn? Ist das denn überhaupt so viel wert?“
Artzt antwortet dann: „Eigentum verpflichtet, das ist der Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft. Wir wollen diesen Grundsatz mit Leben erfüllen, indem wir unser Volkseigentum auch an uns rechtsverbindlich überschreiben lassen.“
Und sein Kollege Gebhardt ergänzt, wenn ihn eine Wählerin kritisch fragt, was sie denn mit einem Anteilsschein anfangen könne: „Na liebe Frau, die Wohnung, in der sie jetzt wohnen, die werden Sie nicht mehr mit 26 Mark Miete bezahlen können. Wäre es dann nicht prima, wenn Ihre vier Familienmitglieder ihr Kapital zusammenlegen und diese Wohnung mit den von uns geforderten Kapitalanteilsscheinen erwerben? Dann wären Sie zumindest die eine Sorge los, dass Sie Ihre Wohnung nicht mehr bezahlen können.“
„Ach, das meinen Sie!“, sagt die Wählerin. „Davon habe ich noch nie etwas gehört. Wieso kommt das nicht in der Zeitung oder im Fernsehen?“
„Weil die Zeitungen und das Fernsehen nicht uns Bürgerrechtlern gehören, weil wir von denen noch keine Anteilsscheine haben“, lacht dann Gebhardt.
Und Artzt erläutert: „Wir sind neu am Start und haben weder die Organisation noch das Geld noch irgendeine große Zeitung wie die anderen.“
Allerdings bekommt die Idee der beiden Bürgerrechtler und ihrer Verbündeten zumindest Schützenhilfe vom DDR-Fernsehen. In einer Talkshow wird der Vorschlag von Artzt und Gebhardt ausführlich diskutiert. In der Sendung wird die Idee eines Anteilsscheins oder einer Volksaktie auch von einem erfolgreichen bundesdeutschen Vermögensberater mit Adelstitel, Albrecht Graf Matuschka, unterstützt. Der Graf gründete Ende der Sechziger Jahre die Matuschka-Gruppe in München und legte das Kapital vieler reicher Deutschen an. 1990 gilt er noch immer als Star der Anlagebranche.
Matuschka plädiert in der Talkshow vehement für eine Volksaktie, die jeder DDR-Bürger bekommen soll.
„Warum?“, fragt die Moderatorin.
„Ganz einfach“, antwortet Matuschka, „weil es sein gutes Recht ist. Weil jeder hier dafür Jahrzehnte gearbeitet hat!“
Jetzt legt er auch die Finger in eine westdeutsche Wunde: Man könnte die Wasser- und Energiewirtschaft in Ostdeutschland so effizient und günstig machen, wie sie anfangs auch in Westdeutschland organisiert war, aber nun durch die langjährige Privatisierung zerstört und von Konzernen und deren Preisgestaltung abhängig ist. Man dürfe nicht die Fehler der Bundesrepublik wiederholen. Kommunale Stromanbieter und kommunale Wasserwirtschaft sollten erhalten und vor der Privatisierung bewahrt werden.
Die Volksaktie wird plötzlich Thema im DDR-Wahlkampf. Die DDR-SPD und die PDS plädieren mit einem Mal ebenso wie das Neue Forum für Beteiligungsmodelle, die dem Matuschka- und dem Artzt/Gebhardt-Konzept ähneln. Doch um deren Funktionieren zu gewährleisten, müsste die DDR erst einmal unabhängig bleiben und eine zweite Chance erhalten. Dann jedoch müsste die deutsche Einheit einen Moment warten. Aber die Mehrheit der DDR-Bürger scheint nicht mehr die Energie aufzubringen, weiter unabhängig vom Westen zu bleiben.
Das gebeutelte Land schleppt sich zur Wahl nach dem Vorbild der Bundesrepublik. Die Wahlbeeinflussung aus dem Westen wird von vielen, aber nicht von allen, als störend empfunden. Noch immer sagen die meinungsmachenden und meinungsforschenden Institute einen Sieg der ostdeutschen Sozialdemokraten voraus. Doch wer Kanzler Kohl bei seinen Auftritten erlebt, kann diesen Prognosen jetzt keinen Glauben mehr schenken. Man fühlt sich in falscher Sicherheit gewogen.
Mit jedem Tag, der die Unsicherheit in Ostdeutschland offenbart, gewinnen die externen Kräfte an Meinungsführerschaft hinzu. Der Einfluss der Westparteien, der Westkonzerne und Westberater wächst – sie alle versuchen, vollendete Fakten zu schaffen. Die Wahl am 18. März sollte eigentlich ein Triumpf der DDR-Demokratiebewegung werden – nun steuert die Titanic auf einen Eisblock zu.
Jürgen Harksen interessierte das alles wenig, er hatte genug Wahlfreiheit in seiner eisfreien norddeutschen Enklave rund um Hamburg und in ganz Dänemark. Er musste sich um seinen neuen Autopark kümmern. Seine Haushälterin bat ihn eines Tages um einen Job für ihren Mann, der seine Stelle verloren hatte. Er wurde Harksens Autowart, der erste Angestellte der Firma VIP-Car-Rental.
Als Harksen fünfzehn Autos hatte, sah er keinen Grund, den Stall nicht noch mehr zu erweitern, zumal sein flüssiger Geldstrom unentwegt anschwoll und über die Ufer zu treten drohte. Das Geld musste angelegt werden. In Prestigeobjekten, in Oldtimer, in Sportkarossen. Gottseidank hielten sich die Auszahlungswünsche seiner Kunden im Vergleich zu den Anlage-Einzahlungen in Grenzen.
Anfang der Neunziger Jahre brach in Deutschland eine allgemeine Vermögenseuphorie aus. Die Reichen aller Bundesländer jubilierten unter dem Eindruck der nahenden Wiedervereinigung. Ab jetzt konnte es nur noch bergauf gehen. Die Wirtschaftskrisen der Vergangenheiten gerieten in Vergessenheit. Man durfte sich wieder ungeniert reich fühlen und gleichwohl bereichern. Das wirkte sich auch auf den Automarkt in den höherpreisigen Segmenten aus.
Zwischen 1989 und 1990 kam es auf dem Edelautomarkt zu einer Wertexplosion. Der Ferrari F40, Listenpreis 400.000 DM, war zu Spitzenzeiten nicht unter zwei Millionen zu haben, denn er galt als Rarität und wurde nicht mehr gebaut. Harksen schaffte sich das teuerste Auto an, das er ergattern konnte, einen Ferrari California Spider, der als Sammlerstück einen Wert von acht bis zwölf Millionen Mark hatte.
Ein Arzt aus Glücksburg an der Flensburger Förde, dem Harksen von Hören und Sagen bekannt war, hatte kein Glück, sondern ausgesprochenes Pech. Er war leidenschaftlicher Ferrari-Sammler und wollte seine Autos zu Phantasiepreisen verkaufen, fand aber partout keine Interessenten. In düsterer Vorahnung, sich womöglich verspekuliert zu haben, kam ihm Harksen mit seinem 1300-Prozent-Versprechen gerade recht. So glaubte er, seine Ferrari-Fehlspekulation wieder gutmachen zu können.
Da er bereits zu klamm war, um sich per Bareinlage oder Scheck Zutritt zum erlesenen Kreis der Begünstigten zu erkaufen, bot ihm Harksen großzügig einen Deal an. Statt einer Bareinlage würde Harksen dem Arzt seine Autos zu den geforderten – illusorischen – Verkaufssummen als Einlagen der Firma Nordanalyse gutschreiben. Mit den entsprechenden – illusorischen – Schuldverschreibungen war der Ferrari-Fan nun Teilhaber an einem sagenhaften – illusorischen – Reichtum.
Plötzlich hatte Harksen also einen Stapel Autopapiere in der Hand. Die Autos kosteten ihn außer dem Unterhalt, ein paar anteilnehmenden Worten und etwas Papier nichts. Und der Arzt hatte eine warme Phantasie mehr, auf die er sein ängstliches Haupt betten konnte.
Damit seine Fans ihrer Bewunderung Raum geben konnten, richtete Harksen einen Jour fixe ein. Jeden Samstag gab es Hackbrötchen in seinem Auto-Zoo. Harksens Fitnessclub-Betreiber und dessen Sohn waren zwei seiner Stammgäste. Eines Tages schlug er ihnen vor, sich fürs Wochenende zwei seiner Nobelkarossen auszuleihen und ihre Frauen mal richtig zu verwöhnen. Die seien schon verwöhnt genug, wehrten sie mit glänzenden Augen sein Angebot scheinheilig ab. Der Sohn bekam als Leihgabe einen Ferrari, der Vater einen dicken Mercedes. Am Montag brachten sie die Autos wohlbehalten mit der frohen Botschaft zurück: „Das Eis ist gebrochen. Du bist bei uns zum Essen eingeladen.“
Die Einladung nahm er gerne an, aber nie wahr. Dafür freute sich Harksen über die hunderttausend Mäuse, die Vater Clubbesitzer in der Woche darauf bei ihm ablieferte. Davon kaufte er voller Übermut gleich einen Ferrari Testarossa.