DEBORA. T.D. Amrein
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„Du bleibst da, bis die Polizei kommt!“, rief Helga jetzt laut. „So eine wie du, die muss man einsperren!“
Michélle versuchte, rückwärts zur Tür zu gelangen, was Helga offenbar erwartet hatte. Sie war schneller als Michélle auf dem Flur, wo sie laut um Hilfe zu rufen begann.
Michélle blieb stehen, wartete ab. Auf den ersten Blick hatte Helga doch noch ganz klar gewirkt. Aber jetzt verschlimmerte sich ihr Zustand so schnell, dass wohl nur noch das Personal des Heimes helfen konnte.
„Inzwischen schleppte Helga eine Schwester in ihr Zimmer. „Da ist sie!“, rief sie triumphierend. „Die französische Vagabundin, die meine Sachen gestohlen hat!“
Die Schwester zuckte nur mit den Schultern und lächelte Michélle dabei an.
„Halt sie fest!“, verlangte Helga. „Sie muss alles zurückgeben.“
„Weißt du denn, wer sie ist?“, fragte die Schwester.
„Sie heißt Michélle“, flüsterte Helga. „Sie denkt, ich merke es nicht, wenn sie stiehlt. Aber ich habe es gesehen. Französinnen kann man nicht vertrauen, weißt du“, versuchte sie, die Schwester zu überzeugen.
Diese antwortete ganz ruhig. „Helga, das ist doch keine Französin. Sie spricht doch unseren Dialekt und arbeitet bei der Freiburger Polizei.“
„Meinst du?“, sagte Helga zögernd. „Aber warum stiehlt sie dann?“
„Sie ist nicht so eine, glaub mir Helga. Sie ist nett!“, versicherte die Schwester.
„Ich bin so müde“, jammerte Helga plötzlich. „Bringst du mich zu Bett?“
Auf dem Flur wollte die Schwester dann doch noch wissen, was geschehen war.
Michélle versuchte, es zu erklären: „Am Anfang war sie ganz normal. Dann plötzlich ist sie wie umgekippt. Ich habe ihr nur ein paar Fragen gestellt, wie abgemacht.“
„Manchmal hat sie solche Momente, so schlimm war es bisher allerdings noch nie. Normalerweise kommt sie gut allein zurecht“, antwortete die Schwester. „Ich denke, dass sie sich morgen nicht mehr an Sie erinnert, also machen Sie sich keine Sorgen. Ein Arzt wird sie noch untersuchen. Wir geben jedoch so lange wie möglich keine Medikamente. Bis es dann einfach nicht mehr geht, ohne.“
Michélle fühlte sich trotzdem irgendwie schuldig. Beim Abschied wünschte sie alles Gute für Frau Attinger. Die Schwester nahm es lächelnd zur Kenntnis.
Helga schmunzelte inzwischen zufrieden unter ihrer Decke. Die würde bestimmt nicht wiederkommen. Ausgerechnet so ein unerfahrenes Küken wollte sie ausfragen. Die wusste doch nichts vom echten Leben. Wie es sich anfühlte, von verschwitzen französischen Soldaten überall angefasst zu werden. Tagelang in Todesangst auf einem Dachboden auszuharren. Wenige Meter neben einem plätschernden Brunnen fast zu verdursten, weil sich unten eine Gruppe Besatzer eingenistet hatte.
Ihr Mann und ihr Vater waren zwar inzwischen tot. Trotzdem würde sie beide schützen bis zum Ende. Sie hatten während des Krieges heimlich geheiratet. Ihr Vater hatte ihm damals einen guten Posten bei der Gestapo verschafft, wo er selbst in leitender Position angestellt gewesen war.
Nach der Niederlage lebten sie als entfernte Verwandte zusammen. Er mit falscher Identität, sie hatte einfach ihren Mädchennamen behalten. Unter den zahlreichen, aus dem Osten Vertriebenen, die sich hier in der Gegend niedergelassen hatten, fiel ein Einzelner mit unklarer Herkunft kaum auf.
Außer, dass sie ab und zu gefragt wurden, weshalb sie nicht heirateten, war das Leben fast normal gewesen. Dass sie deshalb keine Kinder haben durften, darüber war Helga jedoch heimlich froh gewesen. Eine der wenigen Lügen, die sie ihm zugemutet hatte.
Ansonsten hatte sie ihm alles gegeben, was er wollte. Sie hatte ihn sogar verwöhnt, so gut, wie es gegangen war. Kinder hätten da bloß gestört.
5. Kapitel
Für den Nachmittag hatte sich Michélle umgezogen, kurzer Rock, tiefer Ausschnitt, BH mit Einblick.
Wenn dieser Hans Biehler sie trotzdem abzuwimmeln versuchte, dann musste er ein sehr schlechtes Gewissen haben, dachte sie.
Er wirkte für einen Neunzigjährigen erstaunlich lebendig. Ohne Stock oder etwas dergleichen, war er an die Tür gekommen, um zu öffnen.
Auch sein Interesse für die Weiblichkeit war noch keineswegs erloschen, wie Michélle befriedigt feststellte. Auf jeden Fall rückte er seine Brille zurecht, bevor er zur Seite trat, um sie einzulassen. Er führte sie auf einen gedeckten Balkon, wo ein Tisch mit zwei Stühlen stand. Also hatte er ab und zu Besuch, schloss Michélle daraus.
Ohne Umstände bot er ihr ein Glas Wein an. Michélle ließ sich nicht zweimal bitten. Während er eine Flasche holte, richtete sie das Aufnahmegerät ein, stellte auf beiden Seiten des Tisches ein Mikrofon auf.
Hans stutzte kurz, als er zurückkam. „Sie wollen mich aufnehmen?“, fragte er.
„Ja, möchte ich gerne! Wenn Sie es erlauben?“, antwortete Michélle mit sanfter Stimme. Ein mehrfacher Augenaufschlag unterstrich die Dringlichkeit ihres Wunsches.
„Nicht, dass mich das stört“, antwortete er vorsichtig. „Es ist nur ungewohnt. Ich glaube, ich klinge komisch auf Band.“
Michélle lächelte ihn an. „Das denkt jeder, der sich zum ersten Mal selbst hört. Es klingt für alle anderen jedoch genauso, wie Sie sonst sprechen, da müssen Sie sich keine Sorgen machen.“
An seinem Gesicht war abzulesen, dass er nicht begeistert war. Er nickte dann aber trotzdem. „Von mir aus“, brummte er dabei.
Michélle war sich sicher, dass sich ihre Aufmachung schon zum ersten Mal bezahlt gemacht hatte.
Nach dem Anstoßen und dem ersten Schluck schaltete sie das Gerät ein. „Sie haben ja sicher von den Knochenfunden im Keller der Brändles gehört, Herr Biehler?“
Er nickte. Michélle deutete auf das Mikro, er beugte sich herunter. „Ja, ich habe davon gehört“, bestätigte er.
Michélle schaltete kurz ab. „Sie können ganz normal antworten. Wenn Sie nahe rangehen, wird es dann beim Abspielen zu laut“, erklärte sie ihm.
„Ist halt ungewohnt. Ich habe es ja gleich gesagt“, brummte er.
„Am besten vergessen Sie einfach, dass das Band läuft“, schlug sie vor.
Er zuckte mit den Schultern, sie fuhr fort. „Kennen Sie das Haus, Herr Biehler?“
„Ja, das kann man so sagen. Ich bin schließlich schon oft daran vorbeigegangen.“
„Waren Sie auch einmal im Haus?“
„Ich glaube nicht oder vielleicht doch einmal. Auf jeden Fall weiß ich nicht, wie es drinnen aussieht, wenn Sie das meinen.“
„Die Brändles kennen Sie, Herr