Lady Hamilton. Alexandre Dumas
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Es war klar, daß ein stärkerer Wille als der meinige über meine Existenz verfügte, ohne mir die Macht zu lassen, ihm Widerstand zu leisten. – Zuerst entreißt die unerwartete Unterstützung des Lord Halifax mich meiner Unwissenheit, um mir einen Grad von Erziehung und Bildung zu geben, der mir mehr schädlich als nützlich ist. Dann wird diese Unterstützung mir plötzlich wieder entzogen, und der Zufall führt mich in eine gute, rechtschaffene Puritanerfamilie, wo ich mein Leben wenigstens für einige Zeit festgestellt glaube, als plötzlich die unvorhergesehene Begegnung mit Amy Strong neue Projekte in meinem Gemüt allerdings nicht erst erweckt, wohl aber mit solcher Kraft entwickelt, daß ich vergebens der Hand zu widerstehen suche, welche mich fortreißt, und ich gehe nach London, indem ich dem Rufe einer Person folge, die ich nicht kenne. Die Vorsehung, welche diesmal mich ihres Blickes würdigt, entfernt diese Person aus meinem Wege. An ihrer Statt finde ich einen Mann von edlem Herzen und eine Frau mit sanftem, zärtlichem Gemüt. Für sie gehe ich in einem Augenblick aus dem Zustande einer Fremden in den einer Freundin über. Man sucht und findet für mich eine Stellung, die besser ist, als die, welche ich bei dem älteren Mr. Hawarden bekleidete, und weit besser als meine erste Stellung bei Mistreß Davidson. Die ehemalige Schafhirtin wird erste Ladenmamsell eines der reichsten Juweliere von London und hier faßt das Verhängnis, welchem ich entronnen bin, mich abermals und schleudert mich, ohne daß ich Zeit habe mich zu besinnen, in jene krumme gefährliche Bahn hinein, von welcher Mr. Hawarden mir eine so abschreckende Schilderung entworfen. Was soll ich tun? Soll ich dieses verhängnisvolle Haus fliehen? Soll ich zu Mr. Hawarden eilen, ihm alles sagen, alles gestehen, selbst meinen Wunsch Schauspielerin zu werden? Soll ich mich unter seinen Schutz stellen und ihm zurufen: »Hier bin ich! Retten Sie mich! Retten Sie mich!« Wenn ich dies tun will, so muß es geschehen, ehe noch die Nacht verflossen ist, denn wenn diese über meiner Abwesenheit vergeht, so ist alles verloren. Oder soll ich bleiben? Soll ich mein Boot der Strömung, welche es fortträgt, folgen lassen, ohne Lotse und ohne Steuerruder mitten unter den Strudeln und den Stromschnellen? Soll ich es so dem Ozean zutreiben lassen, das heißt einer unbekannten wunderbaren Zauberwelt oder vielleicht den Eisbergen des Polarmeeres?
Aber welcher Unterschied zwischen dem Leben dieser Frau, welche prachtvolle Pferde, elegante Equipagen, Lakaien in kostbarer Livree, ein luxuriöses Hotel, so viel Diamanten, daß sie nicht weiß, was sie damit machen soll, Logen in allen Theatern und einen Geliebten hat, zu welchem sie sagt: »Treten Sie ein, lieber Prinz, ich erwarte Sie!« und der Existenz jener armen Ladenmamsell, welche um acht Uhr morgens aufsteht, ihren Tag damit zubringt, daß sie Schmucksachen handhabt, von welchen ihre Hände nur die Spur des Drucks und ihre Augen den Reflex behalten; die um zehn Uhr sich zu Bett legt, und nicht einmal in ihrem Zimmer die Verse Shakespeares zu deklamieren wagt, weil sie fürchtet, daß die Nachbarn sich darüber beschweren, und daß ihr Dienstherr sie frage, ob sie laut träumt! O Herr, mein Gott, selig sind die, welche die Kraft haben, dem Strom zu widerstehen; aber zu entschuldigen bei der Stellung, welche die menschlichen Gesetze ihnen in der Gesellschaft bereiten, sehr zu entschuldigen, o mein Gott, sind die, welche sich von dem Strome fortreißen lassen. Leider gehörte ich zur Zahl dieser Letzteren. Der Abend verging und die Nacht kam, ohne daß ich den Mut gehabt hätte, zu einem Entschlusse zu kommen. Ich hätte wenigstens an Mr. Hawarden schreiben, ich hätte ihn bitten sollen, an meiner Statt seiner würdigen Gattin die Füße zu küssen. Ich nahm aber nicht bloß meine Zuflucht nicht zu ihm, sondern ich schrieb ihm sogar nicht einmal. Ich schämte mich, ihn wiederzusehen und vermied daher seine Begegnung. Da ich fühlte, daß schon die Erinnerung ein Gewissenbiß war, so bemühte ich mich, zu vergessen, und da mir dies nicht gelang, so betäubte ich mich wenigstens. Dies war meine zweite Undankbarkeit. Und dennoch, woran lag es, daß ich nicht gerade das Gegenteil tat? Ich wollte schreiben; ich trat in ein kleines Kabinett, wo ich ein Bureau gesehen. In diesem Bureau hoffte ich Feder, Tinte und Papier zu finden. Ich fand aber von all' diesem nichts darin. Ich fand weiter nichts als ein Buch, ein Buch, welches ich mechanisch öffnete und las. Es führte den Titel: »Clarissa Harlowe«. Ich wußte nicht, was ein Roman war, ebenso wie ich bei meiner Ankunft in London nicht gewußt hatte, was ein Theaterstück war.
Ich öffnete das Buch oder vielmehr ich öffnete eine neue Pforte, welche in die phantastische, unbekannte Welt führte, in die ich an dem Tage eingetreten war, wo der Vorhang eines Theaters vor mir aufgegangen. Dieser, wie man versichert, zu einem moralischen Zweck geschriebene Roman äußerte auf mich eine Wirkung, welche der, die der Verfasser beabsichtigt, geradezu entgegengesetzt war. Lovelace erschien mir, anstatt als ein abscheulicher Verführer, vielmehr als ein verführerischer Gentleman. Ich beneidete Clarissa sozusagen um ihr Unglück, weil sie ja des Glücks der Liebe teilhaft geworden, und ich war vollkommen bereit, denselben Gefahren entgegenzugehen und mit demselben Ungemach zu kämpfen. Von dem Augenblicke an, wo dieses Buch in meine Hände fiel, von dem Augenblick an, wo ich es aufschlug, war bei mir nicht mehr die Rede davon, an Mr. Hawarden zu schreiben, oder zu Mr. Plowden zurückzukehren. Die Fee hatte mich abermals mit ihrem Zauberstabe berührt; ich gehörte nicht mehr mir selbst an.
Mistreß Norton kam, um mich zu fragen, ob ich hinunterkommen und den Tee mit ihr trinken wollte; sie fand mich aber in meine Lektüre versunken. Ich fragte sie, ob das, was sie soeben zu mir gesagt, ein Befehl von Miß Arabella oder eine Einladung von ihr selbst sei. Sie antwortete, Miß Arabella habe Besuch und denke wahrscheinlich nicht an mich. Ich bat Mistreß Norton, mir meinen Tee und meine Butterbrote, die mein Imbiß und meine Abendmahlzeit sein sollten, auf mein Zimmer zu schicken und, mich ungestört bei meiner Lektüre zu lassen. Einen Augenblick später und ohne daß ich bei dem Eintritte oder dem Fortgehen der Zofe auch nur die Augen von meinem Buche erhoben hätte, hörte ich den Lakai, der mir das Verlangte brachte. Ich gab ihm durch eine Gebärde zu verstehen, daß er alles auf den Tisch setzen und mich dann wieder allein lassen solle. Da es wahrscheinlich sein eigener Wunsch war, meiner Bedienung überhoben zu werden, so gehorchte er. Sobald er wieder hinaus war, verschloß ich die Tür, als ob ich fürchtete gestört zu werden. Ich vergaß den Tee, ich vergaß Mistreß Norton, ich vergaß Miß Arabella, ich vergaß die ganze Welt. Ich war Clarissa Harlowe geworden, so wie ich Julia geworden war.
Nach zwei oder drei Stunden dieser hartnäckigen Lektüre entstand jedoch ein solches Chaos in meinem Geiste, und das Blut drang mir mit solcher Gewalt nach dem Gehirn empor, daß ich das gebieterische Bedürfnis empfand, frische Luft zu schöpfen. Ich öffnete mein Fenster und ging, mich auf eine der steinernen Bänke des Balkons zu setzen. Es war eine schöne Sommernacht, eine jener Nächte, welche Shakespeare wählt, um sie mit einem seiner Träume zu bevölkern. Der Mondschein, welcher durch die Bäume des Gartens fiel, spielte auf dem Rasen und auf dem schlafenden Wasser des Bassins. Julias Nachtigall sang in dem Gebüsch. Es war eine jener Nächte, welche, berauschender als die glühendste Sonne, die Liebe in einem jungen Mädchenherzen zur Reife bringen. Durch die seidenen Vorhänge hindurch sah man die Fenster in Miß Arabellas Wohnung prachtvoll erleuchtet. Man hörte die Akkorde einer Harfe und die gedämpften Töne einer Frauenstimme. Ich hatte noch niemals die Klänge dieses himmlischen Instruments vernommen und Kunst und Natur vereinigten sich, meinen Träumen ein Konzert zu geben. Es waren gleichzeitig Juliens Nachtigall und Clarissas Harfe, welche mir sagten: »Alles liebt! Wir haben geliebt, liebe du nun auch!« Plötzlich öffnete sich eines der Fenster und beleuchtete einen Teil des Gartens, während ich gänzlich im Schatten blieb, so daß ich sehen konnte, ohne gesehen zu werden.
Eine weibliche Gestalt erschien an diesem Fenster. Es war Miß Arabella. Ich machte unwillkürlich eine Bewegung, um mich zurückzuziehen, da ich aber einsah, daß ich nicht gesehen werden konnte, so blieb ich wo ich war. Zugleich mit dem Licht verbreitete sich ein Wohlgeruch von außen. Dann fragte eine Stimme: »Wo sind Sie, Arabella? Wo sind Sie?« – »Hier, gnädigster Herr,« antwortete Miß Arabella. – »Was machen Sie an diesem Fenster, Königin meines Herzens?« – »Ich brannte und ich suche mich zu löschen.« Ein schöner junger Mann, beinahe noch ein Kind, kaum ein Jüngling, erschien jetzt hinter ihr und stützte sich mit dem Ellbogen auf den