Die Gabe des Erben der Zeit. Georg Steinweh
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Unterdessen schlürfte ihr Mustang fleißig Superbenzin, in seinem typischen Rot kam er daher, als wäre die Zeit spurlos an ihm vorübergegangen und jeder, der sich ans Steuer setzen durfte, fühlte sich sofort in die Ära zurückversetzt, in der sowieso alles besser war. Vor allem der Sprit billiger. Der Mustang schlürfte also reichlich, weil er den allzu laut umjubelten technologischen Fortschritt verschlafen hatte. Was ihn ja fast schon wieder sympathisch machte.
Wer Renies Charakter an ihrer Fahrzeugwahl festmachen wollte, konnte nur irren. Egal welche Schublade er aufmachte, es war die falsche. Sie war nicht naiv, nicht oberflächlich, nicht aufdringlich. Schwierig war nur: im nächsten Moment konnte alles wieder anders sein. Ein gutes Beispiel war die Arbeit mit oder besser an Doktor Ernst Tafler, seines Zeichens für die westlichen Bodenseeufer zeichnungsberechtigter Gemeindeamtmann. Der dachte immer noch, mit Lüti-Boden den für Schweizer Behörden wasserdichten Kontrakt ausgehandelt zu haben.
Renie Tiez war auf dem Weg zu ihm. Füttern nannte sie das. Damit ihre Vertragspartner nicht in Verlegenheit gerieten, selbstständig recherchieren zu müssen, um über Sinn und Richtigkeit ihrer Unterschriften im Bilde zu sein. Renie hatte neue Informationen - natürlich nur gute - für Dr. Tafler.
Einmal mehr konnte sie ihren Chef davon überzeugen, mit ihr die beste Wahl für das Gelingen des epochalen Bodensee-Resorts getroffen zu haben. Marc Lüti war Besitzer von Lüti-Boden, der Schweizer Immobilienagentur für innovative Projekte, die weit über das Vorstellungsvermögen eines Normalbürgers hinausgingen. Renie Tiez wurde schnell seine Geliebte. Das ging anfangs auch über ihr Vorstellungsvermögen hinaus. Von dem seiner Frau ganz zu schweigen.
Renie war gut vorbereitet, das Gespräch mit Tafler würde eine Kür. Weitere Grundstücke waren gekauft, die Präsentationen für Projektierung und Inbetriebnahme der verschiedenen Bauphasen hatte sie fast fertig. Sie hing ihren Gedanken nach, spürte den Fahrtwind in den Haaren und hätte am liebsten die Augen geschlossen, um tief entspannt durchzuatmen. Es war ihr bewusst, wie außergewöhnlich es war, in diesem Mustang zu sitzen, es bis dahin geschafft zu haben, wo sie nun war. Sie war dankbar, sich selbst. Wie zielstrebig sie doch war. Wo ihr dieses Leben überhaupt nicht in die Wiege gelegt worden war.
Heulend, fast kreischend stolperte Renie damals durch den Bauerngarten, der nicht ganz schlüssig war, ob er zu den wilden oder den künstlich robust gehaltenen Gärten gehören wollte, so gelungen wuchsen Blumen, Gemüse und Früchte nebeneinander her.
„Mama, du wirst es nicht glauben“, sprang sie ihrer Mutter an den Hals. Jeanne Tiez war überrascht. Renie hatte sich nicht angekündigt, Renie überfiel sie nie so übermütig, Renie landete mit ihr lachend im Hagebuttenstrauch. „Ich krieg ein Stipendium, ich krieg ein Stipendium und einen Freiplatz an der Uni dazu!“
Urs, der Bernhardiner, bellte heiser und sprang schnell wie selten durchs Holzgatter. Sofort wühlte er sich mit nasser Schnauze zwischen die beiden Frauen und plättete den Hagebuttenstrauch noch mehr. Als hätte er nur darauf gewartet, eine straffreie Gelegenheit zu finden, dem Busch den Garaus zu machen.
Die drei gaben ein merkwürdiges Bild ab, als der Vater, vom Geschrei und Gebell aufmerksam geworden, den Kopf aus dem Stallfenster streckte.
„Seid ihr noch gesund? Wollt mir wohl meine Ernte ruinieren?“
Vater Tiez war begabt, er hatte es sich in den Kopf gesetzt, aus nahezu allem, was Früchte trug, ein feines Destillat zu brennen, und würden es nur ein paar Fläschchen Hagebuttenlikör – im Moment war das allerdings fraglich.
So einen wie Renies Vater hätten sie im Mittelalter ans Wagenrad gebunden. So eine wie Renie, so eine hätte es bis ins Gemach des Königs geschafft.
Heutzutage musste es eben das älteste private Bankhaus der Schweiz sein. Wegelin & Co - unter dieser Adresse machte es die zielorientierte Praktikantin nicht. Folgerichtig musste der nächste Sprung auf der Karriereleiter großzügig ausfallen. Lüti-Boden wurde auserkoren. War Marc Lüti nicht ein moderner König? Beherrscher einer international verzweigten Immobilien-Agentur mit neun Niederlassungen in sechs Ländern...
Renie brauchte Zeit. Die bescheiden ausgebaute Uferstraße, die ständigen Ortsdurchfahrten erlaubten kein gedankenloses Kilometerfressen von A nach B. Das war ganz nach ihrem Geschmack. Für sie unvorstellbar, zwischen zwei Punkten, zwischen zwei Meinungen nicht irgendetwas zu finden, was nicht als Anknüpfungspunkt dienen könnte. In der gefälligen Bodenseelandschaft war das kein Problem, da konnte sie sich einfach nicht satt sehen.
Ihre Geschäftspartner betrachtete sie ebenso. Ein Skrupel hier, eine Perspektive des Gegenübers da, sie sezierte alles. Sie entfachte geschickt das zarte Flämmchen Hoffnung für den Kunden, schürte Zweifel beim Kontrahenten, wechselte bis zum Geschäftsabschluss die Perspektive, drängte zum Kauf, verzögerte Verhandlungen. Nachdem sich alle Beteiligten beim Notar die Hände geschüttelt hatten, trennten sie sich mit dem sicheren Gefühl, zum einzig richtigen Zeitpunkt instinktiv die beste Entscheidung getroffen zu haben.
Das war ihre Stärke, Argumentation im Paradoxen.
Freitag, 15 Uhr
Fred hatte sich für das Fahrrad entschieden. Die Kontakte mit den Dorfbewohnern waren sowieso auf das Nötigste reduziert.
Jedes Mal wenn er mit seinem Auto durch den Ort fuhr, spürte er schnell ein beklemmendes Gefühl. Egal, ob er sich morgens nur frische Brötchen holte oder in der Gemeindeverwaltung Einsicht in die Grundbucheintragungen wollte. Sobald er sich jemandem näherte, der am Gehsteig stand oder die Straße kreuzte, spürte er die Enge. Er kannte die Leute, zumindest viele, die da konspirativ ihre Köpfe zusammensteckten und wie eh und je ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgingen - über Dinge zu tratschen, die sie nichts angingen.
Den da drüben kenn ich doch, ist das nicht der alte Leon? Genau, Leon Tomhart. Wollte der nicht Maler werden und als Künstler New York aufmischen? Roy Liechtenstein und Andy Warhol den Rang ablaufen. Naja, vielleicht war er´s auch nicht. Auf jeden Fall, die Sache mit dem Fahrrad war zur Abwechslung mal die richtige Entscheidung.
Der feuchte Sommerwind stemmte sich gegen seinen maladen Kopf und brachte ihn allmählich wieder auf Vordermann. Nur die Beinarbeit ließ zu wünschen übrig. Der alte Drahtesel verbarg seine Defizite nicht. Das Gewicht hätte Fred beim Alteisenhändler einige Euros eingebracht. Die vertrocknete Kette wäre bei einem Gangwechsel hundertprozentig vom Ritzel gesprungen, so spröde klang das Eisen. Es gab aber eh keine Schaltung. Weit war es nicht mehr zum Notar.
Einige freundlich gemeinte Nicker registrierte er heute tatsächlich, als er den Marktplatz querte. Es war, als säße er in einem offenen Zweispänner, die Frackschöße faltenschützend über die Knie gelegt, den Zylinder nicht nur zur Sicherung der kurz geschnittenen Haare auf dem Kopf. Aufrecht radelte er weiter zum Notar.
Unsanft knallte er mit dem Vorderrad gegen den Bordstein, was ihn innerhalb eines Lidschlags auf den steinigen Boden der Tatsachen zurückholte.
Vereidigter staatlich anerkannter Buchprüfer und Nachlaßverwalter Doktor in jure Gunnar Falkenstein
Und drunter in ebenso schwungvoll ausladenden Lettern
Consul