Die Gabe des Erben der Zeit. Georg Steinweh
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Den Vater unter die Erde zu bringen, war noch einfach. Fred musste nur anreisen, am Grab stehen und sich von zwei Dutzend Dorfbewohnern die Hand schütteln lassen. Er hatte nun nicht gerade erwartet, bei der Beerdigung seines Vaters das ganze Dorf ums Grab versammelt zu sehen, aber es reichte nur zur Ortsgruppe des Fischereivereins und einigen nahen Nachbarn. Zu den wichtigen Honoratioren hatte er offensichtlich nicht mehr gehört.
Die Behördengänge hatte der ihn kontaktierende Notar Falkenstein – Gunnar von Falkenstein, genaugenommen – übernommen und so sah es anfangs nach einem zähen, aber schmerzlosen Aufenthalt aus. So schmerzlos wie in der Familie seit langem mit persönlichen Angelegenheiten umgegangen wurde.
Im Moment erinnerte er sich an die letzten drei Wochen nur ungern, gerade weil durch die gehörige Portion Restalkohol die rational kaum zu greifenden Ereignisse noch absurder erschienen.
Die zwei Stunden gestern bei Doktor Falkenstein ließen allerdings die Wartezeit in einem anderen Licht erscheinen. Der Notar zelebrierte die Testamentseröffnung. Fred sank gleich immer tiefer in den gepolsterten Sessel, aber nach und nach wurde er doch aufrechter und angespannter. Im Leben hätte er das seinem Vater nicht zugetraut. Nun war er tot – und forderte einiges mehr.
Fred lag also auf seines Vaters Bank und war nicht ganz bei sich. Sein Blick versickerte in der dunklen Zimmerdecke, wo es glücklicherweise nichts, aber auch gar nichts zu entdecken gab. Durchs offene Fenster drang Möwengeschrei, ansonsten das fortwährende Rauschen des Sees, das zu diesem Flecken Erde gehörte, wie das Knistern zum Kaminfeuer.
Könnte die Bank sprechen - die Gelegenheit so nah an Freds Ohr war günstig wie nie - sie würde einige der Vorurteile revidieren, die Fred gegen seinen Vater hegte. Ach was, das ganze Haus könnte ein Lied davon singen. Aber Fred pflegte sein Vorurteil: alles, was von seinem Vater ausging, war abzulehnen. Seit damals, zu der Zeit, als Konrad Keller versuchte, seinem Sohn ein guter Vater zu sein - und sich doch mehr und mehr in seiner Einsamkeit einrichtete.
Der frühe Tod seiner Frau hatte ihn mit einem Schlag vom Leben abgeschottet. Fred war neun, Vrenie Keller 35. Sie starb bei einem Unfall auf See, eine Geschichte, die lange nicht erzählt werden durfte. Als die Mutter noch lebte, sprach Vater Keller öfters von dem harmlosen Begriff Muttererde, der für ihn beschreiben sollte, wo man gefälligst zuhause war, wo man sich wohlfühlen durfte und die schönste Zeit seines Lebens verbrachte.
Doch mit der Zeit zerschliss das Wörtchen Mutererde mehr und mehr. Es fand sich als Ausrufezeichen hinter allen faden Begründungen. „Muttererde“ erklang, wenn es darum ging, geduldig und zäh die kargen Jahre zu ertragen, die über sie hereinbrachen, unerwartet wie ein Heuschreckenschwarm für das Maisfeld. War es wirklich so unerwartet? Fred lebte in den Tag hinein und konnte seinen Lerneifer gerade so lange auf Trab halten, bis er das Abitur hatte.
Die Tage häuften sich, an denen er sich so störend wie Verkehrslärm und so unnötig wie Bodennebel vorkam. Stundenlang am heimischen Steg sitzen und die Füße ins Wasser baumeln lassen mochte er am liebsten. Irgendwann ging ein Ruck durch Fred. Der bis zu diesem Zeitpunkt auf den Namen Alfred hörte.
Was diesen Ruck verursachte, war niemandem in seiner Nähe klar. Nicht den paar Freunden und schon gar nicht den Nachbarn, die ihn kaum mehr als vom Grüßen auf der Straße kannten. Fred war ab sofort sein Name. Auf nichts sonst würde er mehr hören. Alfred! Wie klingt das schon? Altmodisch. Schwerfällig. Unauffällig.
Es war August. Seit einigen Monaten stand ein generalüberholtes Moped im Geräteschuppen. Er war gerade 16 geworden und alles sollte anders werden.
Nach außen hin blieb er unauffällig und irgendwie träge. Auch als Fred. Aber irgendwann war er so gern gesehen wie die Myriaden Sommerfliegen an stumpf leuchtenden Straßenlaternen, die an den zahlreichen Sackgassen standen, an deren Enden sich hinter akkurat beschnittenen Ligusterhecken ordentliche Wohnhäuser duckten. Fred duckte sich nicht mehr. Nie mehr wollte er Rücksicht nehmen – das wurde sein Motto. Im gleichen Maß wie sich der Vater, vergrämt durch den Verlust seiner Frau, immer mehr aus dem in so einer kleinen Gemeinde lebenswichtigen Dorfgeschehen zurückzog, wandte sich der Sohn den Dorfbewohnern zu, allerdings nur den weiblichen.
Raste mit seiner Zündapp über die Felder, düngte die Dorfstraßen mit dem Gestank des Zweitakters und dem Lärm der getunten Auspuffanlage. Es fiel ihm leicht, jungen Mädchen nicht nur das Herz zu brechen, sondern sie auch noch mit allem Charme, den man ihm nicht absprechen konnte, von ihren Freunden loszureißen. Zumindest für kurze Zeit. Er war oberflächlich, gedankenlos, rücksichtslos. Er kümmerte sich nicht um die Konflikte, in die er die Mädchen stürzte, wenn sie ihre Freunde betrogen. Er war der Überzeugung, sie wollten es, sie wollten ihn.
Dunkel gelockt und grünäugig wie er war, zerstörte er rücksichtslos einige frische Beziehungen. Nur die Mädchen, die überhaupt nicht seinem Schönheitsideal entsprachen, hatten Glück – und blieben verschont.
Es schien, als hörte man weithin erlöstes Aufatmen, das wellenförmig durch Hemmingen schob: „Fred verschwindet!“ „Fred zieht weg.“ „Zum Bund!“
Die Welle hatte eine selbstreinigende Wirkung. Im Dorf kehrte Ruhe ein, zu lange hatte sich der flotte Fred auf einem Trampelpfad bewegt und Wut und Tränen rechts und links seines Weges hinterlassen.
Fred war weg. Es wurde aber auch Zeit.
Gut möglich, daß ihm die eine oder andere weibliche Person mehr als eine versteckte Träne nachweinte.
Fred weinte nicht, genauso wenig wie sein Vater. Die Wehrdienstzeit in Grafenwöhr hatte sich längst angekündigt. Bis zu diesem Tag waren sie sich nicht gerade aus dem Weg gegangen – sie gingen einfach weiterhin ihre eigenen. Hin und wieder half Fred seinem Vater, hängte die Netze zum Trocknen auf, wusch die Fischkästen, tankte das Boot. Die eigentliche Arbeit, morgens um vier auf dem See Netze einholen, Fische ausnehmen und gleich verkaufen, überließ er ihm. Damit wollte er nichts zu tun haben. Am Wochenende schlief er bis mittags, schraubte an seinem alten Moped rum, fuhr durch die Gegend oder machte sich an ein Mädchen aus dem städtischen Gymnasium ran. Samstags arbeitete er für sechs, sieben Stunden bei einer Abschleppwerkstatt, verdiente sich einen Fünfziger für sein Moped.
Konrad Keller schien jeden Tag beweisen zu wollen, daß er ohne seinen Sohn zurecht kam. Fred Keller ließ jeden Tag spüren, daß ihn nicht einmal das interessierte. Er bahnte sich also an, der kurze und schmerzlose Abschied. Ganze drei Koffer mit Kleidung und einen Sack voller Erinnerungen stopfte er in den Kofferraum. Immerhin fuhr ihn sein Vater zum Bahnhof. Der alte RO 80 war das einzige, worauf Konrad Keller stolz war. Allerdings hätte Fred wegen dieses Stolzes fast den Zug verpasst. Der verdammte Kofferraumdeckel klemmte mal wieder. Es war eine Flucht mit Hindernissen. Der Beginn einer Reise, einer Suche, die Fred nach der Bundeswehrzeit zur Kochlehre in ein elsässisches Lokal trieb, bis er nach mehreren Stationen in Bacharach endlich ein eigenes Restaurant übernahm, um es exakt seinen Vorstellungen anzupassen.
Fred arbeitete viel und „zielführend“, wie er gerne sagte. Nie bestand die Gefahr, zuviel Gefühl könnte seine Entscheidungen beeinflussen. Die traf er rational und stets auf seinen Vorteil bedacht. Im geschäftlichen Leben sorgte diese Haltung für stabile Verhältnisse, sein Lokal blieb ihm treu. Im privaten Leben gab es aus genau den gleichen Gründen kein stabiles Verhältnis, er war den Frauen nicht treu. Oder sie wollten zuviel Gefühl.
Und hier, zurückgekehrt an den Platz seiner Jugend, dachte er immer noch so. Dabei war er beileibe nicht gefühllos,