Da war Antonio noch nicht und andere Kurzgeschichten. Kristin Fieseler
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Kristin Fieseler
Da war Antonio noch nicht und andere Kurzgeschichten
Liebes- und Lebensgeschichten
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Inhaltsverzeichnis
Da war Antonio noch nicht
Ich habe keine Wahl. Wirklich nicht. Ich muss es tun, auch wenn es mir das Herz brechen wird. Wer liebt schon solche Szenen? Abschiednehmen ist eine der schwersten. Meistens heult man rum. So wie jetzt.
Zugegeben, sein Outfit heute ist nicht gerade sein bestes, an diesem Samstagvormittag mitten im März. Die Sonne wärmt meinen Nacken. Ich komme mir schäbig vor, so wie sein Outfit. Ehrlich gesagt, ist dies der Grund – zusätzlich zu seinen "Herzproblemen" – warum er hier ist, in meiner Begleitung. Endet jede Liebe auf dem Schrottplatz? Ich meine natürlich die Liebe zu einem Auto. Sie wissen schon, typisch Frau. Die haben eine emotionale Beziehung zu ihrem Auto.
Ich sehe den metallischen Glanz seiner V-förmigen Zierblende, gesprenkelt mit kleinen Rostflecken. Sein ehemaliger flamenco-roter Lack ist verblasst, und das Weiß hat einen Gelbstich. Ich atme tief ein und rieche die Öl und Gummi. Kleine Nebelschwaden verlassen meinen Mund, als ich wieder ausatme. Der Arm des quietschegelben, übermächtigen Kranes über mir quietscht. Ich lege meinen Kopf in den Nacken. Gegen den hat keiner eine Chance. Der Zeitpunkt des endgültigen Abschiedes rückt näher und näher. Die Seilwinde im Kran gibt hohe Töne von sich.
Und auf einmal flackert ein altes Bild in mir auf. Ich bin wieder 19. Gerade den Führerschein, den Lappen wie man damals sagte. Ich saß im Auto meiner Mutter, in einem weißen Ford Fiesta. Und es quietschte erbärmlich. Weil ich volle Kanne in die Eisen gestiegen war. Schnell, blitzartig. Vor der Kühlerhaube, nur ein paar Zentimeter vom Unglück entfernt, stand ein bärtiger, dunkelhaariger Hippietyp, Hawaii-Blumen auf dem Hemd und Jeans, das Hemd lässig aufgeknöpft. Erst jetzt bemerkte ich den roten VW-Bulli, der auf dem Seitenstreifen parkte. Der Typ erholte sich schnell von dem Schreck, klopfte an meine Fensterscheibe, die ich runterkurbelte. Er hätte kein Benzin. Ob ich ihm nicht helfen könnte. Ich stieg aus, wühlte im Kofferraum und hievte schließlich einen vollen Benzinkanister heraus.
So hatten wir uns kennengelernt. Ich und der VW-Bulli. Und genau, ich und Michael, der Fahrer des VW-Bullis. Sein Lack war makellos, damals in den 80ern. Klar, der von dem VW-Bulli. Ein sattes, leidenschaftliches Flamenco-Rot, es hüllte ihn komplett ein – den VW-Bulli. Der Kran ruckelt und sein meterlanger Arm schwenkt bedrohlich nach links. Die Rollen der Seilwinde übertönen das summende Geräusch, das der Kran von sich hören lässt. Ich lächle, als ich dieses Summen wiedererkenne. Die Sonne blendet mich. Also gehe ich einen Schritt zur Seite. Und nun sehe ich sie wieder – über mir.
Diese summenden Neonröhren – die vom Kreißsaal. Keine zwei Jahre später, nach der ersten Begegnung mit Michael. Wir hatten eine rasante Fahrt mit dem VW-Bulli hinter uns. Wir waren gut durchgeschüttelt, weil Michael mit 80 Sachen übers Kopfsteinpflaster gerast war. Es musste schnell gehen. Und da lag ich nun unter diesen summenden Neonröhren, erschöpft, Malzbier trinkend. In meinen Armen ein Baby – Sebastian.Der riesige, runde Magnet nähert sich langsam, aber stetig dem Autodach des VW-Bullis, Stück für Stück. Irgendwo fährt schon wieder ein Polizeiauto mit Sirene. Ja, wie damals. Wir hatten Urlaub in Litauen gemacht, natürlich im VW-Bulli. Unsere erste abenteuerliche Fahrt zu dritt, mit einem Sebastian, der trotz vier Zähnen stets einen Grund zum Grinsen fand. Wir fuhren auf die Kuhrische Nehrung, eine Halbinsel mit irren Sandbänken. Sand, meilenweit Sand. Und wir sammelten Bernstein am Strand. Es waren riesige Brocken, weil tags zuvor heftige See war und sie an Land gespült hatte. Wir sammelten Bernstein kistenweise. Wir stapelten sie im VW-Bulli. An der Grenze gab es Stress. Polizei. Wir legten Dollars in die Reisepässe. Und fuhren nach Hause.
KLONK! Der Magnet hat ihn erfasst. Mein Freund ist nun bereit. Unser, mein VW-Bulli. Bereit für seine letzte Reise. Er heißt Antonio. Das lag an unserer zweite Fahrt nach Italien. Lucca, ein kleiner Ort in der Toskana. Wir fuhren zu dritt. Michael, ich und unser Wonneproppen Sebastian. Sebastian konnte inzwischen reden – wie ein Wasserfall, sehr zur Freude der Italiener. Wir wollten damals einen Ausflug zu einer Kirche machen und fragten einen Fußgänger nach dem Weg. Der Italiener deutete immer wieder auf unseren VW-Bulli und fragte "Antonio?" Ich weiß bis heute nicht, warum er das sagte. Aber egal, seitdem hieß unser VW-Bulli Antonio.
Nun erhebt sich Antonio in die Lüfte. Sein Unterboden ist ein rostiges Etwas. Er sieht so hilflos aus, die Reifen ohne Bodenhaftung. Ausgeliefert. Der "Atomkraft – Nein, danke" -Aufkleber grinst mich an. Ja, Antonio war schon mal auf einer Demo. Kurze Zeit später war ich alleinerziehend. Sebastian war zehn, als Michael aus unserem Leben verschwand. Michael hatte sich mit einer zehn Jahre jüngeren Blondine aus dem Staub gemacht – in einem zehn Jahre jüngeren VW Golf in lila. Antonio durfte ich behalten.
Das Geknirsche in der Schrottpresse wird lauter. Ich muss wegschauen. Ich drehe mich um. Ich höre, wie sich die megagroße Klappe öffnet. Ich habe das Gefühl, als hätte ich befohlen, Antonio, einzuschläfern. Ein Todesurteil. Die Schrottpresse. Ruckartig drehe ich mich wieder um. Mein "Nein!" hallt über den ganzen Schrottplatz. Ich fuchtele wild mit den Händen, hüpfe auf und ab, damit der Kranführer mich bemerkt.
Endlich, endlich stoppt er den Kran. Antonio baumelt hin und her. Ich höre es ganz deutlich. Sein Herz pocht schnell – Antonios Herz. Ich bringe es wirklich nicht über meines. Mit Schulterzucken stellt der Kranführer Antonio unbeschadet auf seinem Platz ab. Ich renne zu ihm. Und streichele seinen stumpfen Lack. "Keine Angst", beruhige ich ihn. Bilde ich es mir ein oder grinst seine v-förmige Kühlerhaube? Ich glaube seine Scheinwerfer leuchten dankbar. Ich werde es nie vergessen. Unser bestes gemeinsames Erlebnis.
Der Unfall an Sylvester, vor gut drei Monaten. Antonios Lüftung machte genau in dem Moment ein schlurfendes Geräusch, als von rechts dieser Lkw wegen Glatteis auf die Fahrbahn schlitterte. Ich war damit beschäftigt mein Handy zu suchen. Antonio rettete mir und Sebastian das Leben. Geschickt lenkten Antonio und ich auf den Gehweg.
Das richtige Auto ist wie ein Schutzengel. Und wer steckt schon seinen Schutzengel in die Schrottpresse? Meine Augen glänzen. Antonio wird eine neue Lackierung bekommen, einen neuen Unterboden und natürlich einen neuen Motor. Das hat er verdient, mindestens. Unser Antonio. Und noch diesen Sommer werden Sebastian und ich mit ihm in den Urlaub fahren, nach Dänemark. Da war Antonio noch nicht.
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