Amélie - Wo Schatten ist. Genèvieve Dufort
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Читать онлайн книгу Amélie - Wo Schatten ist - Genèvieve Dufort страница 3
»Warum bist du jetzt so wütend?« Amélie schaute sie erstaunt an.
»Oh, ... dich habe ich ja völlig vergessen!«, starrte Inès entgeistert zurück. »Wo war ich eben stehen geblieben?«
»Du hast von meiner Mutter gesprochen.«
»Ach ja, ... verdammt, du siehst ihr kein bisschen ähnlich, ›Ma Petit‹.«
Amélie schwieg.
»Na ja, man könnte sicherlich etwas aus dir machen ... Ehrlich! Wird zwar ein ganzes Stück harte Arbeit, aber ich glaube schon, das es gehen wird.« Sie spielte wieder mit ihrer Locke, als sie Amélie weiter musterte. »Du hast aber auch dürre Arme und Beine, … bist ein echtes Klappergestell!«
»Ja, ich weiß.«
Inès regte sich immer noch über die beiden ›Vollkaufleute‹ auf, wie man die ›Souteneurs‹ umgangssprachlich auch nannte. »Ich brauche jetzt einen Schnaps, sonst platze ich! … Sag' mal, du kannst mir nicht zufällig mal einen Flachmann besorgen?«
»Wenn du mir Geld gibst«, antwortete Amélie, einen Daumen am Zeigefinger reibend.
»Hier hast du einen Schein, aber beeil dich.«
»Ja.«
Ich weiß noch nicht einmal, ob sie ehrlich ist. Vielleicht kommt sie gar nicht wieder? Verflucht, ich hätte besser selbst gehen sollen, überlegte Inès, als sie ihr hinterher sah. Im Augenblick kommen doch eh keine Freier. Man kann sich schier die Beine in den Bauch stehen.
*
Amélie rannte schnell die Straße hinunter und kam atemlos im Eckladen an.
Der Besitzer lehnte an einem Regal und kontrollierte seine Bestände. Als er die Türglocke hörte blickte er kurz auf. »Gib dir erst gar keine Mühe, ›Souriceau‹!«, knurrte er sofort. »Bestell' deiner Mutter, erst muss das andere bezahlt werden. Vorher gibt es nichts, aber auch gar nichts mehr auf Kredit!«
»Ich habe Geld, Monsieur Duvenet«, erklärte Amélie und fühlte sich in diesem Augenblick stark.
»Dann zeig' mal her!«
Lächelnd hielt sie ihm die Fünf-Euro-Note entgegen, die Inès ihr gegeben hatte.
»Was will Mademoiselle denn?«, erkundigte sich Duvenet spöttisch. Er legte die Liste und den Kugelschreiber beiseite.
»Einen Flachmann!«
»Ist Robert, der alte Säufer, jetzt umgestiegen?«
»Nein, der Flachmann ist für Inès«, erklärte Amélie.
»Okay, … hättest du mir ja auch gleich sagen können. Du machst dich also endlich mal nützlich und arbeitest jetzt als Laufmädchen für die Damen?«
»Nein«, widersprach sie kopfschüttelnd. »Das mache ich nur so.«
»Na schön. Hier! Aber pass' auf und lass' die Flasche nicht fallen. Inès könnte sonst ziemlich sauer reagieren.«
»Ja.« Sie presste die Flasche an ihre magere Brust und rannte dann schnell zurück.
*
Inès grinste sie an. »Du bist wirklich ein fixes Mädchen. Komm, bleib' doch, unterhalten wir uns noch ein wenig.«
Sie setzten sich auf eine niedrige Mauer.
Mit fahriger Hand drehte Inès die Verschlusskappe ab, nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und wischte sich anschließend mit dem Handrücken über den Mund. »Ah, das tut gut!«
»Du, Inès, ... darf ich dich mal was fragen?«, wagte sich Amélie schüchtern vor.
»Schieß' los. Ich höre.«
»Was muss man tun, um eine ›Putain‹ zu werden?«
Mit dieser Frage hatte Inès nun wirklich nicht gerechnet. Überrascht schaute sie Amélie von der Seite an. »Warum fragst du?«
»Sag' es mir doch einfach«, bettelte Amélie.
»Soll das heißen, du willst diesen ehrenvollen Beruf ergreifen, ›Ma Petit‹?«
»Ja, möchte ich vielleicht schon ...«
»Ach, du liebe Güte!«
»Kann ich das vielleicht nicht, Inès?«
»Tja, das ist so eine Sache. Also ich will mich da ja nicht festlegen. Weißt du, vor vielen Jahren war es mal schick, wenn man wie ein Brett aussah. In den Sechzigern, da gab es dieses englische Fotomodell ... Hab' den Namen vergessen ... Ach, nein, jetzt fällt er mir wieder ein, Twiggy hieß die ... also, die war so dünn wie eine Bohnenstange. Aber die Kerle waren so richtig verrückt nach ihr. Alle Mädchen wollten wie Twiggy sein. Am Ende haben sich einige dabei sogar zu Tode gehungert. Ich erinnere mich noch an einige Schlagzeilen in der ›Libération‹ … Das kann ja mal wieder in Mode kommen, dann hättest du eine wirklich tolle Chance.«
Amélie ließ den Kopf hängen. »Also kann ich das auch nicht.«
Inès tätschelte ihr ein wenig unbeholfen die Schulter. »Hey, ›Ma Petit‹, Kopf hoch! Jetzt lass' dich doch nicht kirre machen. Außerdem ist das nicht gerade ein Zuckerschlecken, hörst du?«
Sie nickte und schaute auf ihre Füße, die sie ein wenig baumeln ließ.
»Hure sein, das hat was von Rauschgift. Wenn du erst einmal eine bist, dann kommst du davon in der Regel nicht wieder los, verstehst du?«, fuhr Inès fort. »Das ist eine echt verflixte Sache … Sieh' mich an. Ich werde hier bis zum Verrecken stehen. Soziale Absicherung? … Vergiss es! Und eines Tages, ja, eines Tages, da wird dann endgültig Schluss damit sein … Und was habe ich dann von meinem Leben gehabt, frage ich dich? Nichts, gar nichts! Glaub' mir, ›Ma Petit‹!«
»Aber irgendetwas muss ich doch machen!«, seufzte Amélie. »Ich will Geld verdienen, Inès. Ich habe noch nie eigenes Geld gehabt. Es ist furchtbar ... Ich will von hier fort, raus aus diesem Viertel.« Sie blickte Inès traurig an. »Ich will endlich frei von all dem hier sein und leben. Wo Schatten ist, … da muss doch auch irgendwo Licht sein … Verstehst du mich?«
»Sie quälen dich wohl sehr daheim, wie?«
»Raphael ist am schlimmsten.«
»Wer ist Raphael?«
»Mein Bruder.«
»Hör' doch nicht auf den.«
»Mein Vater ist ein Scheusal, er will seit Jahren unbedingt ein Aufklärungsgespräch mit mir führen, in allen Details ...«
Inès lachte rau. »Dieses Schwein! … Und was hast du ihm gesagt?«
»Dass wir schon in der Schule aufgeklärt worden sind und ich auf praktische Übungen sehr gern