Der Diplomatenkoffer. Hans W. Schumacher

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Der Diplomatenkoffer - Hans W. Schumacher

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In der Tat setzte sich bald darauf eine alte Frau auf die Nachbarbank, kramte in ihrer Einkaufstasche, zog eine Tüte heraus und begann Brotkrumen vor sich hinzuwerfen. Kaum eine Minute später flatterten und hüpften Dutzende von Vögeln in wildem Getümmel um sie her.

      Julio hatte die Sprachlehre durchblättert, die Lektion memoriert, das Buch wieder in sein braunes Diplomatenköfferchen gesteckt und dieses neben sich an die Bank gestellt. Da noch etwas Zeit bis zur Abfahrt war, streckte er die Beine aus, verschränkte die Hände im Nacken und beobachtete, wie sich die Tiere ums Futter stritten. Fiel ein Brotstück in die Menge, schossen gleich mehrere darauf zu, bis ein Glücklicher davonflog, um die Beute in Frieden auf einem Ast zu verzehren. Doch vergeblich, mindestens einer folgte und jagte ihm das Stück ab, bis endlich nur noch Krümel herabrieselten, um die sich keiner mehr kümmerte.

      Julio hatte sich wie immer, wenn er zum Unterricht ging, in eine Art offiziellen Dress zwängen müssen, um der Etikette des Instituts genüge zu tun, an dem er seit Beginn des Studienjahres als Lektor für italienische Sprache unterrichtete. So trug er einen taubengrauen, für den heutigen Tag schon fast zu warmen Anzug mit enger Weste, darunter ein gestärktes weißes Hemd mit einer dezenten Krawatte, die ihm den Hals zuschnürte. Seine Schuhe waren blank geputzt, sein neuer Aktenkoffer war aus braunem Leder mit Messingverschlüssen.

      Er schloss die Augen im warmen Sonnenschein, der durch die Lücken im Laubwerk fiel, hörte träumerisch Sperlinge schilpen, Meisen zwitschern und dachte an seine Freundin im fernen Umbrien. Julio stammte aus Orvieto, wo sein Vater Lateinisch am Lyzeum gelehrt hatte, bevor er wegen des Fortschreitens einer multiplen Sklerose aus dem Dienst scheiden musste.

      Bei einem Ausflug hatte Julio im Herbst des vergangenen Jahres Cleopatra Neri kennengelernt, die in ihrer Heimatstadt Pitigliano eine kleine Galerie besaß, wo sie ihre eigenen Bilder und Kunsthandwerk der Region verkaufte. Pitigliano liegt auf einer Felszunge, die sich wie ein Schiffsbug in einen tiefen Canyon vorschiebt. Die schlichten ockerbraunen Bruchsteinhäuser wachsen aus der gleichfarbigen Klippe heraus und lassen die Stadt wie eine ausgedehnte Festung aussehen.

      Er hatte sich aus dem Fenster des Ausstellungsraum, in dem er völlig allein war, gebeugt und einen Blick hinabgeworfen. Tief unten am Fuß der Felsen glitzerte das Wasser des kleinen Flusses zwischen den Bäumen in herbstlichen Feuerfarben, und der süßbittere Geruch der welkenden Blätter wehte mit dem kühlen Wind hinauf. Als er sich umwandte, stand Cleopatra hinter ihm und sprach ihn an. Sie mochte etwas älter als er sein, er schätzte sie auf Ende zwanzig. Sie war nur ein wenig kleiner als er, dunkelblond und wohlproportioniert.

      Er liebte die bildende Kunst, und es zog ihn magisch in jedes Museum und in jede Galerie, nur war es ihm peinlich, dass er nicht in der Lage war, etwas zu erwerben. Die Preise lagen immer weit über dem, was er sich leisten konnte. Deswegen war er verlegen, als die hübsche Besitzerin ein Gespräch mit ihm begann. Doch sie wollte ihm nichts verkaufen, sie fühlte sich einsam, den ganzen Tag über waren nur fünf Besucher gekommen. Sie vermied es, von den Ausstellungsstücken zu sprechen, als ahnte sie, wie es um seinen Geldbeutel stand, und als er sie im Rahmen des Fensters vor der Felskulisse auf der anderen Talseite sah wie eine der von Filippo Lippi oder Leonardo gemalten Frauen, da verfluchte er seine Armut - und sagte es ihr auch. Er bekannte, dass er ihre Bilder bewunderte, die melancholische Harmonie der Stillleben von Gläsern und Flaschen, die Ausgewogenheit ihrer Komposition, die Kühnheit eines Rot oder Blau bei dem im übrigen gedämpften Farbklang und so fort. Wenn er es könnte, würde er alle mitnehmen.

      Seine Offenheit rang ihr einen resignierten Seufzer ab, sie gestand ihm, dass es schlecht um ihre Finanzen stand. Sie nannte ihm sogar die Höhe ihrer Schulden, eine Summe, die ihn schaudern ließ. Und da die Galerie zumachte, lud er sie zum Essen ein. Das war das einzige, was er tun konnte, und er tat es gern. Die Cena zog sich bis spät in den Abend hinein, er fand immer wieder eine neuen Anlass, den Abschied zu verzögern, bestellte nach dem Menü noch Espresso, Nachtisch, Eis, neue Getränke, bis es fast halb zwölf war, und ihr Gespräch wurde mit der Zeit immer vertraulicher.

      Was danach folgte, hätte er nie zu träumen gewagt. Als er die Rechnung zahlte, fragte sie ihn, ob er ihr Atelier sehen wollte. Es lag über der Galerie und war nur durch eine Außentreppe zu erreichen, über deren Geländer man in den dunklen Abgrund unter der Stadt sehen konnte. Als er mit leichtem Schwindelgefühl den Absatz vor dem Arbeitsraum erstiegen hatte, streifte sie ihn mit ihrem Oberarm, als sie an ihm vorbeiging, um die Tür zu öffnen. War das absichtlich geschehen, fragte er sich mit leisem Herzklopfen. Aber nachdem sie das Sofa von Zeitschriften, Büchern, Zeichenblöcken und Farbtuben befreit und ihn eingeladen hatte, sich neben sie zu setzen,wusste er, dass es kein Zufall gewesen war. Sie schwieg, sie hatte ihre Hand neben seiner liegen, ihre Finger berührten und schlangen sich ineinander, sie sahen sich in die Augen und dann trafen sich ihre Lippen zu einem langen Kuss.

      Danach war Julio ständig unterwegs zwischen Pitigliano und Rom, wo er studierte, oder Viterbo, wo er als Volontär in der Redaktion einer Lokalzeitung sein Geld verdiente. Seine Leidenschaft wuchs im gleichen Maß wie ihre Kreditschulden beim Banco del Santo Spirito, denn die Touristensaison hatte nicht das erhoffte Ergebnis erbracht, und im Herbst und Winter war noch weniger zu erwarten.

      "Julio," seufzte sie einmal in seinen Armen, "kennst du den Film Ein Amerikaner in Paris?"

      "Ja, natürlich. Von Vincente Minelli, wenn ich mich nicht irre."

      "Richtig! Darin spielt doch Gene Kelly einen armen Künstler, der auf dem Montmartre unter freiem Himmel malt. Eines Tages tritt eine reiche Frau an seine Staffelei, unterhält sich mit ihm, kauft ihm ein paar Bilder ab und will später für ihn eine Ausstellung organisieren."

      "Und?"

      "Ich hoffe auf meinen Millionär."

      "Soweit ich mich erinnere", sagte Julio, "erwartete sie, dass er mit ihr ins Bett ging. Würdest du das auch tun, wenn dein Millionär auftaucht?"

      "Wenn er nicht zu alt und hässlich ist, warum nicht?"

      "Ich erwürge dich", schrie Julio und legte ihr die Hände um den Hals, führte seine Absicht jedoch nicht aus, sondern küsste sie so heftig, dass ihr fast die Lippen bluteten.

      "Ich würde ihn nur wegen seines Geldes lieben", erklärte sie, als er von ihr abließ, "und dich um deiner selbst willen."

      "So nebenbei!"

      "Du könntest immer kommen, wenn er weg ist."

      "Versprochen?"

      "Versprochen!"

      "Ich erwürge dich", wiederholte er, und da beider Blut in Wallung war, endete der Streit in einer wilden Kopulation, nach der sie von Seligkeit, Stolz und ein wenig Scham erfüllt nebeneinander lagen, lange gegen die Decke starrten und ihren Gedanken nachhingen.

      Julio hatte in seinem Halbschlaf einen jener Träume, an deren Inhalt man sich nicht entsinnt, deren Stimmung aber länger anhält und die nebelhafte Gestalt einer Vorahnung annimmt. In ihm zitterte mit dem Rest von Wollust in den matten Gliedern ein Glücksgefühl, das wie Aurora über rosigen Wolken daherschwebte und schließlich Gewissheit wurde.

      "Ich werde dein Millionär sein", flüsterte er.

      "Wie willst du das machen?"

      "Ich weiß nicht, es wird einfach geschehen."

      "Du spielst doch nicht im Lotto!" erinnerte sie ihn.

      "Das hat auch keinen Zweck."

      "Warum nicht?" fragte sie, stützte ihren Kopf in die Hand und sah ihn neugierig an.

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