Der Diplomatenkoffer. Hans W. Schumacher
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Читать онлайн книгу Der Diplomatenkoffer - Hans W. Schumacher страница 5
"Lassen wir doch die Sitzung einfach ausfallen", schlug Barrault vor. Auf ihn hatte Julio gerechnet, er war der Faulste von allen, seine Noten bewegten sich hart am Rand von mangelhaft.
Bonnard, Rude und die vier weiblichen Hörer protestierten, aber Barraults Suggestion fiel auf fruchtbaren Boden.
"Stimmen wir ab", rief ein Rothaariger in der letzten Reihe, von dem Julio glaubte, dass er an dem Kurs, der übrigens freiwillig war, nur teilnahm, weil in ihm sämtliche Mädchen versammelt waren, die an der Landwirtschaftlichen Hochschule studierten.
"Einverstanden", sagte Julio. Er zählte die für den Abbruch der Veranstaltung ausgestreckten Arme ab und stellte erleichtert fest, es war die Mehrheit.
"Auf Freitag also", rief er in den geräuschvollen Aufbruch hinein, "dann habe ich aber die Bücher wirklich mit. Das passiert mir nicht ein zweites Mal."
Nachsichtiges Gelächter kommentierte seinen Ausruf. Dabei überfiel ihn der Gedanke, dass er vielleicht geschwindelt hatte. Er würde natürlich auf der Stelle den Dienst quittieren und zu Cleo zurückkehren.
Es zog ihn in sein Zimmer im Studentenwohnheim, wo er sich sammeln und seinen Schatz inspizieren könnte, aber Rude, Bonnard und eines der Mädchen traten herzu, um ihn zu begleiten. Rude nahm Julio sogar mit schnellem Griff den Diplomatenkoffer ab, um ihn zu tragen. Julio hätte sich beinahe mit ihm darum gestritten, aber er ließ es bleiben, um keine Aufmerksamkeit auf das Objekt zu lenken.
"Ist der aber schwer", juxte der Bretone, "sind da Goldbarren drin?"
Julio begnügte sich mit einem schwachen Grinsen und trottete einsilbig und im inneren Aufruhr zwischen den Studenten daher.
"Non possiamo fare un piccolo esercizio di conversazione, soltanto noi tre con Voi? (Können wir nicht eine kleine Konversationsübung machen, nur wir drei mit Ihnen)" fragte ihn das Mädchen, "qui al sole (hier in der Sonne)." Und sie wies auf eine Bank zwischen den Blumenrabatten vor dem Hörsaalgebäude.
Julio hätte sie schlagen mögen, aber er konnte sich kaum seiner Verpflichtung entziehen, schließlich wurde er für sechs Stunden Unterricht in der Woche bezahlt. Sie setzten sich also, Julio erklärte ihr, dass die Form Voi seit einigen Jahrzehnten nicht mehr benutzt würde, weil sie im Faschismus gebräuchlich gewesen sei. Man habe sie durch die Form Lei mit der dritten Person Singular ersetzt. Das habe er Ihnen doch schon mehrmals erklärt.
"Da muss ich gefehlt haben", erklärte sie, "Voi wäre wirklich bequemer für uns."
"Das glaube ich gern", sagte er, "aber wir Italiener wollen schließlich auch etwas Eigenes haben" und sah mißtrauisch zu Rude hinüber, der sein Köfferchen auf die Knie gelegt hatte und mit den Fingern an den Schlössern herumspielte.
"Warum soll denn die zweite Person Plural faschistisch sein?" fragte sich Rude, ließ ein Schloss aufschnappen und drückte es wieder zu, um es gleich wieder hochschnellen zu lassen. "Dunque noi altri francesi siamo dei fascisti? (Dann sind wir Franzosen also Faschisten)?"
Julio erklärte geduldig, wie sich Sprachgewohnheiten entwickelten. "La lingua è la fisionomia intellettuale ma anche emozionale di un popolo, (die Sprache ist die intellektuelle, aber auch emotionale Physiognomie eines Volkes) seiner Vorurteile, seiner Ideologien, seiner idées fixes. Nimm zum Beispiel das Wort Neger. Bis Menschenrechtler in Amerika in den sechziger Jahren behaupteten, das Wort sei rassistisch, wurde es überall wertneutral benutzt, genau wie das Wort Weißer. Neger wurde plötzlich als Schimpfwort angesehen, man musste aus den Europäern unerfindlichen Gründen Schwarzer sagen, obwohl Neger, vom lateinischen niger abgeleitet, die gleiche Bedeutung hat."
"Ich glaube, man wittert hinter jedem alten Sprachgebrauch irgendeine schlechte Gesinnung", meinte Danielle, "und dann will man mit neuen Wörtern die Leute in die Falle locken: wer nicht Schwarzer sagt oder besser noch Farbiger, den hat man als Rassisten entlarvt, hurra!"
"So einfach ist das", meinte auch Rude, und ließ das Schnappschloss wieder aufspringen. "dasselbe Spiel betreibt man mit dem Wort Kapitalist, das eigentlich nichts weiter bedeutet als ein Mensch, der Geld besitzt. Solange er Geld in der Tasche hat, ist jeder Mensch Kapitalist. Aber seit Marx entdeckte, dass Kapital böse ist, sind alle moralisch minderwertig, die auch nur einen Pfennig ihr eigen nennen."
Julio stimmte ihm begeistert zu, aber als plötzlich beide Schlösser aufsprangen und Rude den Kofferdeckel leise mit den Daumenspitzen anhob, riss er ihm sein Spielzeug vom Knie: "Du machst einen ganz nervös. Jetzt ist aber Schluss damit!"
Diese Aktion war so ruckartig geschehen, dass ein Banknotenpäckchen hochsprang und zwischen den Deckel und den Kofferrand geriet. Julio merkte es nicht und versuchte vergeblich, den Deckel zu schließen. Der Bretone zog es blitzschnell hervor, hielt es lachend in die Höhe und rief: "Kapitalistenschwein!" Julio schlug verzweifelt den Deckel zu und drückte die Verschlüsse ein.
"Das nenne ich wirklich schizophren", tadelte das Mädchen, das Danielle Bertrand hieß, den Bretonen, der Julio reumütig das Päckchen zurückgab, "erst erklärst du das Wort Kapitalist für wertneutral, und dann ist Herr Martini auf einmal ein Kapitalistenschwein."
"Hai ragione (du hast recht)", gab Rude zu, während Julio das Päckchen mit zitternder Hand in seine Rocktasche steckte, "la parola era soltanto dettato dall'invidia (das Wort war nur vom Neid diktiert). Aber sag mal, Julio, was machst du mit all dem Zaster, da ist doch noch mehr drin?"
Not macht erfinderisch. "Ich muss heute Abend ein Appartment anzahlen. 90.000 NF. Der Besitzer will es in bar haben", log Julio kurz und knapp. Lange Erklärungen wirken nicht überzeugend.
"Na, das ist doch wieder mal so ein Steuerbetrüger", vermutete Bonnard, "und deswegen musst du das ganze Geld mitschleppen und riskierst, dass dir jemand in einer dunklen Ecke eins über den Schädel gibt."
"So ist das Leben!" murmelte der Sprachlehrer, der von seinem Abenteuer so mitgenommen war, dass ihm alle Gliedmaßen schmerzten, "sagte mal, wärt ihr mir sehr böse, wenn wir uns jetzt trennten. Ich bin todmüde, hatte eine schlaflose Nacht.“
„Durchgemacht, eh?" meinte Rude.
"Nein, ich machte mir Sorgen wegen des Bankkredits, den ich aufnehmen musste. Weiß noch nicht, wie ich ihn zurückzahlen soll. Aber ich brauche eine Wohnung."
"Aber du hast doch hier ein kostenloses Zimmer", erinnerte ihn Rude.
"Muss man euch denn alles auf die Nase binden, ich habe eine Verlobte, wir wollen zusammenziehen."
Das Mädchen machte ein Gesicht, als wäre ihr das gar nicht recht. Die Jungen stießen sich in die Rippen und kicherten.
"Toujours la sessualité", zitierte Bonnard aus Zazie dans le métro.
Sie gingen zusammen zum Wohnheim II hinüber, einem ungemütlichen dreistöckigen Betonbau. Vor seiner Tür verabschiedeten sie sich voneinander
"Wir sehen uns vielleicht nach dem Abendessen zum Billard", sagte Julio und klopfte Rude freundschaftlich auf die Schulter, um wieder einen Eindruck von Normalität entstehen zu lassen. Im Grunde aber hatte er das Gefühl, dass sie ihn alle bohrend betrachteten, als wüssten sie um sein Geheimnis. Als er in der Tür einen Blick hinter ihnen herwarf, sah er, wie sie die Köpfe zusammensteckten, während sie zur Cafeteria hinüberschlenderten. Danielle lachte auf, und der Libanese drehte sich ruckartig um, als wollte er sich vergewissern, ob Julio etwas von ihren Reden mitbekommen hatte. Der spielte den Gleichgültigen,