Blinde Passagiere. Sabine Reimers
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Sabine Reimers
Blinde Passagiere
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Inhaltsverzeichnis
Prolog
In einer Gefahrenlage, so sagt man, schärfen sich alle Sinne. Die Konzentration steigt ins Unerträgliche, mit der Schneide eines doppelseitig geschliffenen Dolches stoßen die Eindrücke in die überreizten Sinnesorgane. Auch wenn die Reize von schwacher Natur sind: Eine dunkle Schiffskabine, die Vorhänge dicht geschlossen, sodass ich nur Schatten wahrnehmen kann. Ein Stuhl, auf dem ich nackt in schmerzlich verkrümmter Haltung mit Panzerband verklebt bin.
Eine Stimme, die fast unablässig in mein Ohr flüstert und zu einem Mann gehört, der mich beständig umkreist, ein Tiger, der seine Beute zur Strecke gebracht hat, aber noch auf den rechten Appetit wartet.
In ermüdend gleichförmiger Weise kreist mein Peiniger um mich herum, die Hand auf meinem Kopf, seine Stimme ist sanft, fast zärtlich, erotisch motiviert, als er immer wieder die gleichen Worte spricht: „Diese kleine Stelle, diese winzig kleine Stelle, nur so ein kleiner, kleiner Stich, nur so ein kleiner Moment – und du bist geheilt. Diese kleine weiche Stelle.“ Mit einem leidenschaftlichen, aber nicht ruckartigen Griff packt er meinen Kopf von hinten und drückt ihn auf meine Brust. Seine eiskalten Hände gleiten meinen Hinterkopf entlang. Ich spüre, wie sie die Schädelbasis berühren und das verspannte Muskelgewebe darum liebevoll erregt mit zwei Fingern massieren. Er seufzt leise.
Ich bin vor Angst gelähmt und nehme alles so deutlich um mich herum wahr, dass es mich schmerzt, ich kann meine Gedanken nur unter größter Anstrengung sammeln. Zeit gewinnen. Vielleicht werde ich vermisst, bin nicht pünktlich auf meiner Schicht als Steward. Vielleicht suchen meine Kollegen nach mir. Vielleicht kann ich rufen, wenn ich Schritte auf dem Gang höre. Vielleicht werde ich gehört. Vielleicht.
„Warum gerade ich?“ Dusselige Frage, was soll man schon in dieser Lage sagen?
„Oh, du, warum gerade du“, seine Hände streicheln nun wieder in begehrender Zärtlichkeit meine Haare, „ich will dir doch nur helfen. Du brauchst Hilfe! Die Stimmen in deinem Kopf. Du wirst so gequält, du hörst sie immerzu. Ich höre sie auch, es sind meine Freunde! Sie haben dich zu mir geschickt! Ich spüre sie. Ich wähle nicht aus, sie tun es! Du brauchst doch Hilfe – du brauchst mich.“ Er beugt sich zu mir hinunter, sodass die letzten Worte nur ein feuchter Hauch in meinem Ohr sind. Als er vor mir niederkniet, packt er meinen Kopf und drückt seine Stirn an meine. Zwei Finger drücken sich sanft in meine Schädelbasis.
„Diese Stelle, diese kleine weiche Stelle, sie ist als Hilfe gedacht. So leicht, so leicht kann man die Stimmen damit ausschalten. Du wirst mir dann dankbar sein. Ich weiß es. Ich spüre es. Immer diese Stimmen, aber sie werden schweigen. Ich helfe dir!“ Er hört sich an, als habe er tatsächlich Tränen in den Augen. Er löst meinen Hinterkopf aus der Umklammerung und kreist weiter um mich herum, beständig eine Hand an meinem Kopf.
Ich versuche ruhig zu klingen: „Ich habe kein Problem mit meinem Kopf. Ich fühle mich sehr gut!“
„Doch, doch, ich weiß es, es sind die Stimmen, die sprechen. Die nie verstummen wollen. Ich helfe dir, Ruhe zu finden. Auch ich höre meine Freunde. Sie beauftragen mich, zu helfen, dann sind sie zufrieden – und ich werde mit Ruhe belohnt, Ruhe, die ich auch dir gönne.“
Er tritt wenige Schritte von mir weg und nimmt etwas von der Nachttischkommode. Eine Sekunde später blitzt ein zweischneidiger Dolch aus Damaststahl vor meinen Augen auf. Die Klinge ist in wunderschönen Faltungen gelegt, der Griff aus geschnitztem Holz. Es scheint, als sei es noch nie benutzt worden – oder sehr gut gepflegt.
„Das hilft rasch gegen die Stimmen, die du in deinem Kopf hörst. Ich habe sehr viel Geld dafür bezahlt, um zu helfen. Aber das seid ihr mir wert.“
Ich spüre, wie er das Messer im Nacken ansetzt und verkrampfe mich. Der letzte Moment meines Lebens? Soll es das schon gewesen sein? „Nein“, schreie ich, brülle die Angst und Anspannung heraus und spüre gleichzeitig, wie der Typ mir mit einem Ruck ein ganzes Büschel meiner Haare abschneidet.
„Nun kann ich sie besser fühlen, die weiche Stelle, zart und weich und ihr Puls drängt mir entgegen.“ Wieder liebkost er mit zwei Fingern meine Schädelbasis; meine Angst wandelt sich in schiere Panik. Ich höre, wie mein Peiniger die Schnalle seines Gürtels löst, wie er den Reißverschluss seiner Hose öffnet. Die Hose gleitet hinab, er steigt mit einem Schritt darüber. Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich sie als dunklen Schatten auf das Bett fliegen. Sein schwerer Atem beschleunigt sich. Da höre ich ein Geräusch vom Gang her, Menschen reden, lachen, ich will antworten, ich will leben, atme tief ein, bereit zum Schrei, zwei Finger kneten unablässig fordernd meine Schädelbasis; sein Atem zischt heiß und stoßweise an meinen Nacken, ich öffne den Mund, dann hören die Finger kurz auf …
… erstaunlich, ich spüre keinen Schmerz.
Von der Zimmerdecke aus sehe ich mich verkrümmt in dem Stuhl sitzen, mein Mörder sinkt mit einem befriedigten, kehligen Aufstöhnen zusammen. Der geschnitzte Holzgriff des Messers ragt aus meinem Nacken, ich bin erstaunt, wie wenig Blut hinunterfließt. Eine weiße, zähe Flüssigkeit rinnt meinen Rücken herab.