Blinde Passagiere. Sabine Reimers
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„Na, da haben wir uns ja wieder jefunden!“, Frau Menken konnte ihr Glück kaum fassen. Silvia nickte belustigt und bot ihr den Platz neben sich an.
Ein älteres Ehepaar setzte sich nach höflicher Anfrage auch noch an den Tisch, ebenso eine Familie mit einem kleinen Sohn.
„Nee, wa’, gucken Sie mal, die Sonnenbrillenträger wieder … hab’ ick vorhin schon jesehen … wat für Bekloppte, ‘ne?“
Die Gruppe von vierzehn Männern, davon elf mit Sonnenbrillen, betrat das Restaurant. Sie nahmen gleich an den ersten beiden Tischen Platz. An der Art ihrer tastenden Bewegungen und dem vorsichtigen Setzen erkannte Silvia den Grund für die Brillen: „Das sind Blinde! Ein Gruppe Blinder auf einer Mittelmeerkreuzfahrt – erstaunlich, oder?“ Frau Menken schien es die Sprache verschlagen zu haben. Sie starrte so intensiv zu den Männern hin, so unverhohlen neugierig, dass sich Silvia für sie schämte. Als würde er den durchbohrenden Blick spüren, drehte sich ein großer, etwas dicklicher Mann zu Frau Menken um und lächelte sie an. Diese errötete sofort und sah Silvia an. „Gruselig, wa’? Hat der det jetzt jespürt, oder wat? Haben den sechsten Sinn, sagt man ja!“
Der kleine Junge am Tisch fragte seine Eltern: „Können die echt total gar nichts sehen, Papa? Warum sind die dann auf dem Schiff? So eine tolle Reise brauchen die doch dann gar nicht, oder? Was haben die denn davon?“ Silvia schmunzelte, herrlich, diese Kinder! Trauen sich einfach das zu sagen, was jeder denkt! Die Mutter machte dem Jungen ein Zeichen, er solle leiser reden und flüsterte ihm etwas zu.
Schade, das hätte ich auch gerne gehört .
Die Dame zu Silvias Rechten lehnte sich zu ihr herüber, als der Kellner Wasser einschenkte:
„Mein Name ist Elli von Waldensrieth, ich mache mit meinem Mann diese Kreuzfahrt anstatt einer Feier zur goldenen Hochzeit. Warum die anderen durchfüttern, wenn man sich lieber selbst beschenken kann!“ Sie lachte gekünstelt.
„Silvia Landwehr. Aus Berlin.“ Das war es. Muss man einen Grund angeben? Ich mache die Reise als Belohnung, weil ich bei meiner Arbeit als Polizeikommissarin ein traumatisches Erlebnis hatte, das ich ganz gut aufgearbeitet habe und in ein paar Wochen in den Dienst zurückkehren werde?
Frau von Waldensrieth sah nach der knappen Antwort so enttäuscht aus, als spürte sie genau, welcher Leckerbissen an Tratschstoff ihr gerade entgangen war. Aber es gab ja noch … „Irene Menken, ick mache die Reise, weil ick darauf jetzt fünf Jahre lang jespart habe, is’n Traum und det ha’ick mir verdient, durch die janze Schufterei. Morgens bis abends inner Küche von der Charité, det Essen kochen, allet jut machen, und dann schmeckt’s eh keenem und nach zwee Stunden schmeißte allet in’n Müll, was du jekocht hast.“ Sie schüttelte den Kopf. Es fiel Silvia auf, dass Irene Menken, wenn sie aufgeregt war, deutlich mehr berlinerte. Offenbar bemühte sie sich sonst um Hochdeutsch, was ihr dann auch mehr oder weniger gut gelang.
Silvia sah zu den Blinden. Ein Mann stand zwischen den beiden runden Tischen und erklärte etwas, das sie nicht hören konnte. Er konnte offensichtlich sehen und schien der Reiseleiter zu sein, der wichtige Informationen weitergab. An der Art, wie ein anderer Mann seinen Gesten folgte, erkannte sie, dass auch er sah.
Herrgott, kannst du nicht einmal abschalten und nicht alle Gruppen und Personen auf potenzielle Bedrohungen und Täter hin analysieren und beurteilen? Eine Gruppe Blinder auf einem Kreuzfahrtschiff – und du nicht im Dienst. Ungefährliche Situation!
Sie lächelte in sich hinein und sah zufrieden, wie Frau von Waldensrieth, deren Mann stumm zu sein schien, mit Irene Menken in eine erregte Diskussion über die Essenstandards von Krankenhäusern verwickelt war. Der kleine Junge hatte vom Kellner ein Malblatt mit einem Schiff auf dem Meer bekommen, das er ganz eifrig bunt verzierte. Seine Eltern lehnten sich aneinander und der Vater legte den Arm um die Schulter seiner Frau. Silvias Blick schweifte über das Meer. Die Sonne war schon dem Horizont nahe und ihre letzten hellen Strahlen brachten das Meer zum Glitzern.
Das Essen war so köstlich wie im Prospekt angepriesen. Silvia versorgte sich mit drei Gängen vom Feinsten. „Käse–Rucola–Suppe“, „Gratinierter Blumenkohl an Seehecht“ und „Crème brulée mit Himbeermousse“.
In den nächsten zwei Wochen sollte ich immer wieder mal eine Mahlzeit durch Salat ersetzen, wenn das Mittagsbüfett auch so üppig ist, rolle ich als Tonne von Bord!
Immer wieder schweifte der Blick aller am Tisch hinüber zu den Blinden, teils unverhohlen neugierig (Frau Menken, Frau von Waldensrieth), teils gespannt (Silvia, der kleine Junge), wie sie mit den Herausforderungen am Büfett umgingen. Erstaunlicherweise wiesen das Tischtuch und die Kleidung jener Reisegruppe weit weniger Flecke auf als die der „Kontrollgruppe“ mit dem fünfjährigen Claudius, der im Nahkampf mit dem Besteck noch deutlich mit der Feinmotorik zu kämpfen hatte.
Der Wein war geleert, Claudius ins Bett gebracht und der Saal leerte sich. Auch Silvia legte ihre Serviette zusammen und stand auf. Frau Menken bemühte sich eifrig, ihr zu folgen, um den Anschluss nicht zu verlieren: „Na, det war doch fein, oder? Und nun? Jeh’n wir noch in die Bar oder in die Disco?“
Gerne, wenn ich mir aussuchen darf, mit wem nicht! Höflich murmelte Silvia etwas von „zurückziehen“, „neue Umgebung“, „langsam gewöhnen“ und verabschiedete sich. Sie hoffte, nach ein paar Minuten in ihrer Kabine, auf den gut 25.000 Quadratmetern der zugänglichen Bereiche des Schiffes, jene ohne Frau Menken zu erwischen.
Zurück in ihrem kleinen Reich öffnete sie sofort die Tür zum Balkon. Sie trat in die winzige Nische und sog die Abendluft durch die Nase ein. Weite, immer wieder die Weite des Meeres streichelte ihre Seele. Vielleicht doch lieber mit einem Buch in die Loggia setzen? Aber sie war noch ein bisschen unternehmungslustig und wollte mehr vom Schiff sehen, also nahm sie ihren Wälzer „Der Wolkenatlas“, ein Geschenk ihrer Tochter Anja für die Reise, und begab sich auf das oberste Sonnendeck. Bei ihrer Ankunft am Nachmittag waren hier viele Familien, Lachen, Lärm und Durcheinander gewesen. Jetzt, am späten Abend, war es viel ruhiger. Pärchen lagen Hand in Hand in Liegestühlen, andere redeten leise, einzelne standen an der Reling und schauten aufs Meer. Beruhigt registrierte Silvia, dass sie mit ihrem Wunsch nach Ruhe und Entspannung nicht alleine war.
Sie nahm sich an der Deckbar einen kühlen Weißwein, einen Pinot Grigio, und suchte sich einen Liegestuhl aus. Als sie ihr Buch aufschlug, brüllte eine Gruppe Männer rechts von ihr los. Die Blinden hatten gerade das Deck betreten und offenbar hatte einer eine Bemerkung gemacht, die alle sehr komisch fanden. Die Männer suchten sich Stühle; wieder war Silvia fasziniert, wie umsichtig und vorsichtig sie sich an der Reling entlangtasteten, über das Deck gingen und hier und da nach Stühlen fragten. Der untersetzte Herr, der Frau Menken beim Abendessen einen leichten Schock versetzt hatte, als er sie so direkt anblickte, kam auf sie zu. Er legte seine Hand vorsichtig auf die Lehne des Stuhls neben ihr. Sie sprach ihn an: „Der ist frei und etwa zwei Meter nach rechts, oh, Moment, das ist links von Ihnen, da sind noch mal zwei! Brauchen Sie Hilfe?“
Er lächelte: „Das ist sehr freundlich, aber ich denke mit dieser präzisen Angabe komme ich sehr gut zurecht! Sie können unbesorgt weiterlesen! Einen schönen Abend wünsche ich!“
Silvia bedankte sich und nahm ihr Buch wieder hoch. Moment! Wie hatte er bemerkt, dass sie las? Hatte das Senken des Buches ein Geräusch gemacht, für sie nicht zu hören? Sie schüttelte den Kopf, nicht zu fassen, was diese Blinde wahrnehmen konnten. Sie nippte an ihrem Wein und beobachtete die Gruppe neugierig. Die Männer setzten sich zusammen und unterhielten sich nun in gemäßigter Lautstärke.
Sie