Crazy Zeiten - 1975 etc.. Stefan Koenig
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Ich hasste Aufdringlichkeiten. Meistens gut gemeinte.
Doch ich fegte die schlechten Gedanken hinfort. Passagiere quälende Stewardessen sind vom gleichen Kaliber, sie meinen, dass sie es gut meinen, flüsterte mir die Großhirnrinde zu.
„Möchten Sie einen Schluck …?“
Ich schlug für einen winzigen Moment die Augen auf, sagte „Bin angeschnallt“ und schloss die Augen wieder. Aber ich spürte, dass die Passagiere-Quälerin im Gang neben unserer Sitzreihe stehenblieb.
„Ob Sie einen Champagner möchten. Sie haben Geburtstag!“
„Ja“, entfuhr es mir automatisch. Danach lasst ihr mich verdammt nochmal in Ruhe. Ich bin saumüde! Bitte!
Noch einmal öffnete ich mit letzter Willensanstrengung die Augen, um den Champagner zum Mund zu führen. Doro und Quiny schienen das Spiel mitzumachen.
Das Prickeln im Hals war ein Anschlag auf den guten Geschmack; fast hätte ich mich übergeben. Ich verkippte das Glas.
Doro tupfte mich ab – vielleicht war es auch die Stewardess – und man reichte mir ein feuchtes Tuch und ein neues Glas.
„Ehrlich gesagt, trink ich lieber Karamalz. Der Champagner schmeckt wie Sprudel, das bekommt mir irgendwie nicht. Und dann lasst mich bitte schlafen.“
Wie um meinen Wunsch zu unterstreichen, drehten die Turbinen auf und erzeugten ein angsteinflößendes Dröhnen. Die Flugbegleiterin brachte mir noch schnell ein Glas Wasser, das genau wie dieser Champagner schmeckte, und eine Tablette, kurz bevor der Pilot die Startbeschleunigung freigab. Ich stürzte das Glas Wasser und die Pille sofort hinunter, und meine Hände umspannten krampfhaft die Lehnen.
Langsam sammelten sich kleine Schweißperlen an meinem Haaransatz und tropften gemächlich meine Schläfen hinunter. Widerwillig blieb ich einen kurzen Moment wach. Die Boeing schoss an den erleuchteten Hangars vorbei, und die Lichter und hellen Punkte seitlich der Startbahn wurden kleiner und kleiner, bis sie sich schließlich zu einem lang ausgestreckten Lichtstrich vereinten.
Ich warf keinen Blick hinunter. Meine Augen waren zugefallen. Als das Dröhnen und Vibrieren nachließen, drückte ich mich noch fester, aber beruhigt in meinen Sitz. Nun endlich konnte ich schlafen.
„Also, gute Nacht, Schatz“, murmelte ich.
„Gute Nacht“, hörte ich die Stimme meiner geliebten Doro.
Flug Nr. 3342 der Lufthansa-Flotte verlief bis zu diesem Zeitpunkt planmäßig. Ich schlief tief und fest und traumlos, wie ich zunächst dachte. Aber dann hatte ich einen schlimmen Albtraum. Darin war ich von der Uni geflogen und somit durch das Begabtenabitur gefallen, weil mein prüfender Professor entdeckt hatte, dass ich ihn um den Finger wickeln wollte. Und Svea war eine bloße Schauspielerin, um mich im Namen Gottes zu prüfen.
Ich stritt mich mit Gott, dem ich vorwarf, dass er all das Übel in der Welt zuließ. Gott sprach von der Eigenverantwortlichkeit der Menschen und von der Vertreibung aus dem Paradies. Es war ein rein theologisch-unlogisches Geschwätz. Wie nicht anders zu erwarten, begann er bei Adam und Eva. Ich hingegen sprach vom sozialistischen Paradies und von Gottes eigener Verantwortlichkeit, wenn er denn allmächtig sei und fragte ihn, warum er die Erfindung der schändlichen Sklaverei zugelassen habe? Hatten die Sklaven daran selbst Schuld oder wie? Schon freute ich mich, weil Gottes Antwort ausblieb und er anscheinend ins Grübeln kam.
Ich war kampfesmutig und warf ihm allerhand vor, was in der Menschheitsgeschichte schiefgegangen war. Ich begann mit der unmenschlichen Sklaverei bei den alten Ägyptern, warf ihm die Sklavenhalterordnung der Römer und Griechen vor und natürlich die moderne Lohnsklaverei, Ausbeutung, Kinderarbeit, Armut, Umweltzerstörung.
Ich holte kaum Luft, und schon warf ich Gott den unmenschlichen Faschismus mit seinen verheerenden Folgen für Deutschland und die Welt an den Kopf. Natürlich warf ich ihm auch den immer noch existierenden Rassismus, Chauvinismus und Faschismus in westlich orientierten Ländern wie Spanien, Portugal, Griechenland und jetzt auch noch in Chile vor. Die Krönung meiner Vorwürfe bestand in der Aufzählung aller mir bekannten großen Kriege, die Gottes geliebte gottesfürchtige Menschlein je geführt hatten. War er vielleicht ein unbarmherziger Kriegsgott, hatte er uns nicht als sein Ebenbild erschaffen?
Sogar die Hunnen warf ich ihm an den Kopf. Dann kam ich zu all den unnötigen Naturkatastrophen, angefangen bei Blitz und Donner, Regenfluten, Überschwemmungen, Erdrutschen, Erdbeben, Kometeneinschlägen, Dürren, Missernten, Eiszeiten und allem, was dem Blauen Planeten schaden konnte. Und das sei Gottes Lieblingsball im Spielfeld des Universums?
Ich hatte gerade alles aufgezählt, als ich glaubte zu erwachen. Ich erinnere mich dunkel, dass ich mir jedenfalls vornahm, schneller zu erwachen, als Gott mich für meine wenig ehrfürchtige Rede zur Hölle schicken konnte.
Ich musste meine Augen erst an die Umgebung gewöhnen. Ich befand mich nicht in dem Hotel „Marseille“, jenem kleinen heruntergekommenen Etablissement in Marrakesch, wo wir noch vor weniger als vierundzwanzig Stunden untergekommen waren. Ich befand mich auch nicht in der Berliner Lützen- oder Clausewitzstraße. Ich befand mich ganz eindeutig in Lufthansa-Flug 3342 eines großen Vogels namens Boeing 757.
Ich nahm mein Taschentuch und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Puhhh, noch mal Glück gehabt. Gott hatte mich nicht aus dem Flieger geworfen.
Ich wollte nun aufspringen, denn ich witterte Gefahr. Doch der Gurt hielt mich fest.
Fasten Seat Belt. Ich löste benommen die Schnalle.
Jetzt hielt mich noch kurz der Krallengriff des Albtraums gefangen, dann ließ auch er mich los und gab mir scheinbar die volle Orientierung zurück.
Ich befand mich auf dem Luftweg nach Berlin, und mit mir 299 andere Passagiere. Darunter meine Freundin Doro und das mit uns eng befreundete Pärchen Quiny und Wolle, der nette Dreckskerl, der es beim Start irgendwie geschafft hatte, mich am zügigen Einschlafen zu hindern.
Als Erstes warf ich einen Blick auf die Uhr. 1:12 Uhr.
Dann sah ich auf den Sitz rechts neben mir, wo Doro saß. Doch sie war nicht da. Stattdessen lag dort ein Taschentuch.
Dann sah ich weiter in der Reihe – doch die Sitzreihe war leer, völlig leer.
Dann schaute ich vor mich und schaute den Gang entlang, und voller Schrecken stellte ich fest, dass ich niemanden sah. Nirgends ein Kopf über der Lehne eines Sitzes. Nirgends ein Bein quer im Gang. Weit und breit keine Stewardess in der Economy Class.
Ich betätigte den Ruf-Knopf für das Bordpersonal, aber nichts rührte sich – auch nicht, als ich mehrmals und lange klingelte.
Über den Service werde ich mich beschweren, schrie es in mir. Ich werde Schadensersatz fordern. Doro und ich hatten eine Rechtsschutzversicherung, wie jeder kluge Deutsche. Rechtsstreitigkeiten kostenfrei!
Ich strich mir über die verschwitzten, fettigen langen Haare, über die sich das vornehme Damenkränzchen meiner Mutter jetzt zu Recht belustigt hätte. Aha, schoss es mir durch den Kopf. Man schaut Video in der First Class. Die Stewardess legt bestimmt gerade ein neues Band ein. Vielleicht sehen sie „Angst essen Seele auf“, meinen Lieblingsfilm von Rainer Werner Fassbinder.
Ich stand benommen auf. Vielleicht sehen sie auch „Jeder für sich und Gott gegen