Crazy Zeiten - 1975 etc.. Stefan Koenig

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Crazy Zeiten - 1975 etc. - Stefan Koenig Zeitreise-Roman

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isoliert von jeglichem menschlichen Kontakt, außer zu einem Fremden, der ihm sein Essen brachte. Ich ging nach vorne und schob den Vorhang, der die Abteile trennte, zur Seite. Den Kaspar-Hauser-Film wollte ich schon lange mal sehen. Die Rezensionen waren vielversprechend.

      Was ich sah, rebellierte gegen meinen Verstand:

      Kein Video! Kein Mensch! Keine Stewardess! Die erste Klasse war völlig leer, ebenso wie die Economy Class.

      War das Gottes Rache – die Vernichtung der Ersten Klasse? Hatte er gar auf mich gehört, hatte er den Klassenkampf zugunsten der Benachteiligten entschieden? Oder hatte er eigentlich die Zweite Klasse, in der ich saß, aufs Korn genommen und der Einfachheit halber das menschliche Leben von allen Klassen erlöst? Hatte er sich bei der Klassenwahl getäuscht, war es ein Versehen? Er hatte sich schon so oft getäuscht. Jahrtausende lange Täuschungen.

      In diesem Moment ertönte der überlaute Ruf.

      Es war Doro, sie rief nach der Stewardess.

      Zwischenlandung bei den Kelly Kids

      Am nächsten Morgen wachte ich in einem Hotelbett neben Doro auf.

      „Wo sind wir?“, fragte ich.

      „In Madrid; der Flieger hatte technische Schwierigkeiten. Und du hattest hohes Fieber. Ich muss jetzt deine Temperatur messen.“

      Ich war wohl heillos überfordert gewesen, körperlich und psychisch, dazu ein Infekt – und nun lag ich hier an meinem Geburtstag. Die erste Hotelübernachtung ging auf Kosten der Lufthansa. Auf Doros hartnäckiges Betreiben hin durften wir beide allerdings zwei Übernachtungen bleiben, obwohl das Hotel am Madrider Flughafen ab dem Folgetag angeblich ausgebucht war. Ich war noch viel zu schwach, um die Weiterreise antreten zu können. Meinen Geburtstag im Krankenbett zu feiern, war mal was Neues. Doro besorgte mir ununterbrochen Tee und versorgte mich mit Obst, Tapas und irgendwelchen obskuren Genesungspillen.

      Ich schlief den ganzen Tag bis zum nächsten Vormittag und war nach der üblichen spanischen Siesta-Zeit um 17:00 Uhr wieder soweit fit, dass wir gemeinsam einen kleinen Spaziergang in Madrids Altstadt unternehmen konnten. Das Taxi setzte uns in der Nähe der Kunstgalerie »Circulo de Bellas Artes« ab. Von dort aus schlenderten wir Richtung »Museo Nacional Thyssen-Bornemisza« und kamen schließlich am »Plaza Mayor« an.

      „Was hat denn der Thyssen-Konzern hier in einem Museum verloren?“, fragte Doro. Ich wusste es nicht. Warum das Museum den Namen Thyssen führte, würde ich vielleicht später herausfinden.

      Eine große Menschentraube stand am Plaza um eine achtköpfige Gruppe singender Kinder und Jugendlicher herum, die mit den unterschiedlichsten Instrumenten eine tolle Gesangsschau abzogen. Mittendrin befand sich ein älteres Paar, das sich beim Singen gegenseitig anhimmelte und voller Energie und Leidenschaft die Kinderschar in ihrem Gesang mitriss. Fast schien es mir, als sei dies eine große Familie. Die hüftlangen Haare fast aller Gruppenmitglieder und ihr ungewöhnlicher Kleidungsstil sprangen ins Auge.

      „Das ist eine am Existenzminimum nagende Großfamilie“, sagte Doro.

      „Es scheinen Geschwister zu sein, und die beiden Älteren sind wahrscheinlich Vater und Mutter“, meinte ich.

      Die Geschwister traten in teils ländlichen, teils hippieähnlichen Gewändern und Kostümen auf.

      Doro wiegte ungläubig den Kopf. „Die müssen sämtliche Flohmärkte, Antiquitätengeschäfte und Secondhandläden abgegrast haben.“

      „Oder sie haben einen Theaterfundus aufgekauft.“

      Musik und Gesang der Gruppe klangen bezaubernd und rissen uns in ihren Bann.

      „Ist zwar nicht meine Musikrichtung“, sagte Doro, „aber die können wirklich was!“

      Wie um das zu bestätigen, brandete jetzt tosender Applaus auf, der sich fast zu einer kleinen Fan-Hysterie steigerte. Das war ein richtig gutes Straßenkonzert, wie wir es bisher in dieser musikalischen Wucht noch nicht gehört hatten – auch wenn es nicht unbedingt unserem „reinen“ Hippie-Musikstil entsprach. Sie sangen alte spanische Volkslieder, und es waren Akkordeon, Banjo, Violine, Saxophon, Geige und zwei afrikanische Trommeln im Einsatz.

      So lernten wir sie zufällig kennen, es war eines ihrer ersten Straßenkonzerte vor einer größeren Menschenmenge. Sie nannten sich »The Kelly Kids«. Wir kauften ihnen eine Kassette ab, die wir ein paar Tage später aus unserem Reisegepäck auskramten und zuhause auf zwei leere Kassetten kopierten. Eine davon brachten wir als Geschenk bei der Clausewitz-WG vorbei, die andere schickte ich meinen Eltern nach Frankfurt.

      Sechs Jahre später, als die »Kelly Family« ihren ersten Hit landete, suchte ich verzweifelt nach einer dieser Kassetten. Doro und ich hatten uns zu dieser Zeit getrennt und unsere musikalische Erinnerung aus Madrid war verschwunden. Auch das Mitbringsel für die Clausewitzer war 1980 unauffindbar.

      Jetzt aber, im September 1974, freuten sich unsere Freunde über „diese musikalische Rumdudelei“, wie Peggy meinte. Meine alte gute Wohngemeinschaft Clausewitzstraße 2 in Charlottenburg bestand inzwischen aus sechs Bewohnern. Rolf, unser orthodoxer Marxist-Leninist, war eine ehrliche Haut und immer noch gut im Secondhand-Geschäft unterwegs, womit er reichlich Knete verdiente, denn er hatte als Erster diese Idee vom Gebrauchtkleiderhandel in Westberlin auf den Markt gebracht – eine beachtliche kapitalistische Leistung, auf die er jetzt mit seinen 25 Jahren schauen konnte.

      Rolfs Freundin Peggy, inzwischen 22 Jahre alt, harrte noch immer bei ihm aus. Sie führten nun eine ziemlich altbackene Beziehung, die sie schon vor drei Jahren eingegangen waren. Als hauptamtliche Gewerkschaftlerin war sie gewohnt, dass man in Arbeiter- und Funktionärskreisen dem Trinken zugeneigt war, doch mit Rolfs heimlichen Besäufnissen wollte sie sich nicht abfinden. Als wir die WG besuchten, hoffte ich eine veränderte Situation vorzufinden. Alles aber war unverändert. Rolf bestritt, jemals über den Durst zu trinken, wobei Peggy ärgerlich schnaubte und keinen offenen Streit vor uns austragen wollte. Vielleicht hätte das damals noch Rolfs unausweichliches Schicksal verhindern können.

      Mein guter, kluger und bescheidener Freund Richy hatte sein Zimmerchen immer noch gegenüber der Küche, gleich neben dem Gemeinschaftsraum. Regina und Helmut waren neu eingezogen und wohnten in meinem ehemaligen Zimmer. Gegenüber von ihnen hatte Francois, Spitzname »Frankholz«, das Zimmer von Tommi und Rosi bezogen, die ihre Zweisamkeit seit Kurzem in einer Zweizimmerwohnung in Spandau genossen.

      Tommi holte nun das Abi auf dem zweiten Bildungsweg nach, was nach Feierabend jede Menge Abendschule bedeutete. Kaum dass sie dort hingezogen waren, wurde Tommi aus dem Innendienst in Spandau zum Außendienst nach Kreuzberg versetzt. Sein Postler-Dasein bestritt er nun als maulender Aushilfs-Briefträger in Kreuzberg, was ihm keiner von uns verübeln konnte, wenn er von seinem Arbeitsdrama berichtete.

      Sein Vorgesetzter war ein Stiernacken namens Beckstein, vielleicht um die Dreißig. Man brauchte dort dringend Hilfe, und es war leicht zu sehen, weshalb. Beckstein hatte ein aufgeplustertes rotes Gesicht und hervorquellende Augen und trug immer rote Socken und ein blutrotes Hemd aus einem Stoff, den er wohl in einer spanischen Stierkampfstadt erworben haben musste. Beckstein roch förmlich nach Menschenquälerei.

      Neben Tommi gab es noch drei weitere Aushilfen – Lothar, Nino und Toni. Morgens um fünf mussten sie antreten. Nino war der einzige Trinker in der Mannschaft. Er trank immer bis nach Mitternacht. Früh um fünf saßen sie dann auf Abruf in der Sortierhalle, denn erst musste abgewartet werden, ob die

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