GIFT geschädigt. Maxi Hill
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An diesem Nachmittag wollte Schrimp kein einziger guter Gedanke mehr kommen. Nur einer war ebenso intensiv wie sein Mitgefühl für Aaron. Es war nicht die Empörung über Aarons viel zu langes Warten. Es war die Parallele zu Sebastian Hamm, diesem Schüler mit der hysterischen Mutter, die – wie er erst seit Kurzem wusste – alleinerziehend war.
Parallelen
Für gewöhnlich prasselten die Gespräche im Lehrerzimmer quer über den langen Tisch. Heute herrschte erwartungsvolle Stille. Es war nicht auszumachen woran das lag. Obwohl er nicht glauben konnte, dass es etwas damit zu tun hatte, was er jetzt wusste, obwohl er nicht glauben konnte, dass es jemanden aus dem Raum überhaupt interessierte, empfand er als ärgerlich, dass er dieses Wissen hatte und dass er von Aaron zum Schweigen verurteilt worden war. Schweigen aus Freundschaft? War das die Lösung?
Er erwartete nicht, dass sich irgendjemand für Aaron interessierte. Er erwartete nicht einmal, dass es sie interessieren würde, läge in Aarons Vermutung ein Fünkchen Gewissheit. Eigentlich erwartete er nichts. Gar nichts. Er setzte sich an den Tisch und harrte darauf, was Direktor Mudrack zu sagen hatte.
In der Tagesordnung standen zwei Punkte: Die Chemieolympiade und das Personalkonzept. Nur Letzteres konnte der Grund des spannenden Lauerns sein. Kein anderer.
Mudrack erschien. In seinem Gefolge Sven Krüger. Mudrack rieb sich wie stets die Hände. Krüger war nicht nervös. Im Gegenteil. Selbstsicher blickte er in die Runde. Selbstgefällig? Das war jene Eigenschaft, die Schrimp nicht ausstehen konnte. Er war gewillt, das ganze Theater um diese Olympiade nicht sehr ernst zu nehmen. Genauso hielt er es auch mit der Mathematikolympiade. Um die wurde ein ebensolches Aufsehen gemacht, während man sich um die Biologieolympiade gar nicht scherte – höchstens dann, wenn die Schule als Sieger hervorging. Dann konnte man sich nicht genug spreizen. Die Arbeit blieb allein dem Fachbereich überlassen. Für Chemie und Mathe standen finanzielle Mittel bereit, aus Fördertöpfen und von Sponsoren. Alle Lehrkräfte hatten sich einzubringen, dafür kämpften die Emporkömmlinge Krüger und Bär, die sonst nichts von Kollegialität hielten.
Mudrack erging sich in ellenlangen Litaneien, die man schon im Schlaf beherrschte und die jedem auf die Nerven gingen. Schrimp wollte sich nicht erregen, nicht innerlich und äußerlich schon gar nicht. Noch waren die Schülervertreter anwesend. Das war nicht nur ihr Recht. Denen gönnte er sogar den Stolz auf ihre Schule als Ausrichter der Landesolympiade.
Schrimp saß gelassen da, beinahe gelangweilt. Es gelang ihm nicht, auf seinem Block herumzukritzeln und gewisse Sehnsüchte in Form von Schiffen oder Düsenjets auf das weiße Blatt Papier zu fabrizieren wie einige seiner Kollegen. Irgendwo hatte er mal gelesen, diese Kritzelei baue Spannung ab. Andererseits könne man aus der Kritzelei lesen wie aus einem Tagebuch.
Maddy Brown zu seiner Rechten kritzelte auch. Es sah komisch aus. Alle ihre kleinen und großen geometrischen Muster entstanden auf der linken Blattseite, während Heiner Bär die rechte Blattseite benutzte, um seine chaotischen Muster zu malen, die nach oben gerichteten Pfeilen glichen. Schrimps Blatt war noch jungfräulich weiß. Ein Zeichen von Mangel an Kreativität? Hatten diese Zeichen tatsächlich eine Bedeutung? In seiner Erinnerung kritzelte Aaron auch immerzu winzige Schiffchen aufs Blatt. War es die Sehnsucht, von hier wegzukommen? Von der Schule? Oder von Hanna? Am Ende der Dienstberatung sollte Schrimp bemerken, dass auch er kleine Muster auf Papier gebracht hatte. Eine sehr gerade Kante vieler kleiner, von Offenheit zeugender Sterne mitten durch das Blatt.
Inzwischen sprach Mudrack schon über die Vorgabe vom Schulamt. Also hatte er die Verteilung der Aufgaben in seinem Grübeln mal wieder überhört. Das war kein Problem. Alljährlich ist er für das Rahmenprogramm zuständig. Auch das beherrschte er im Schlaf, wenn auch jährlich neue Programme erdacht werden mussten. Ihm würde schon was einfallen. Nur eines würde sich nicht ändern. Er selbst wollte die Gastschüler nur zu den Themen begleiten, die für sein Fach relevant waren. So viel Eigennutz durfte sein.
Solange Mudrack über die Personalveränderungen sprach, kritzelte niemand mehr. Zwei Lehrkräfte mit geeignetem sozialen Hintergrund sollten für den Einsatz im Speckgürtel von Berlin benannt werden. Man wusste es aus der Zeitung. Der Wälzungsprozess zwischen den Schulen hatte begonnen, um jene Lehrer weiter beschäftigen zu können, für die lange Anfahrtswege nicht zumutbar waren. Mudracks Rede nahm ebenso kein Ende wie seine Vorschläge nicht Hand und nicht Fuß hatten. Vom allgemeinen Murren ließ er sich wie stets nicht abhalten.
»Meine Vorschläge haben Empfehlungscharakter«, sagte er gerade, als Schrimp mit seinen lautlosen Rückschlüssen zu den Kunstwerken auf den Notizblöcken fertig war. »Ich darf noch einmal daran erinnern: Das ist nicht meine Idee und es ist nicht mein Bestreben. Wer Vorbehalte hat, sollte sie jetzt vorbringen, aber bitte mit konkreten Fakten belegen, die ich bedenkenlos weiterreichen kann.«
Maddy Brown sprach zuerst, ungefragt. Ihre Worte waren ebenso geordnet, wie ihre Muster auf dem Blatt.
»Vorbehalte im rechtlichen Sinne habe ich nicht. Wir sind Staatsdiener und wir haben uns als solche zu verstehen. Der Staat überragt die Mauern dieser Schule, aber diese Schule ist keine gewöhnliche Schule. Wir haben erlebt, was Lehrkräfte fachlich bringen, die bisher ihre Konzentration auf Disziplin und Ordnung im Unterricht verschwenden mussten und wir wissen alle wie es aussieht, wenn nur mal ein Fachlehrer in einer Sektion fehlt. Das kann man nicht ausbügeln. Jedenfalls nicht anspruchsgerecht.«
Schrimp saß ungerührt dabei. Ging er mit falscher Einstellung an die Sache? Nein. Es kümmerte ihn tatsächlich nicht sonderlich. Wenn sie ihn auswählten, er würde gehen. Seine Bedingung war lediglich ein adäquater Ersatz. Es war nicht zu erwarten, dass Ole Fedder jeden Versuch unternehmen würde zu prüfen, ob sein Nachfolger adäquat sei. Schon ärgerte er sich über das Wort, das er zuließ, weil es das meistgebrauchte Wort von Mudrack war, auch wenn Schrimp es nur in Gedanken zuließ. Was man in Gedanken zuließ, war der Anfang vom Übel.
»Nun gut. Zur Sache.« Mudrack kürzte sein Fazit auf das Nötigste. »Frau Heinrich ist Mutter von zwei Kindern. Ihr können wir einen Drei-Stunden-Arbeitsweg ebenso wenig zumuten, wie wir ihr einen Umzug zumuten können. Sie hat ein eigenes Haus. Bliebe in der Sektion Kunsterziehung noch Aaron Barthels.«
Bisher war Schrimp ruhig und uninteressiert. Jetzt spürte er, wie er wütend wurde, wütend genug, um sich selbst damit zu überraschen.
»Wäre es nicht besser, wir würden über jemanden befinden, der anwesend ist? Wir sollten jedem die Möglichkeit geben, seinen Standpunkt zu vertreten.«
»Wir befinden nicht. Wir schlagen vor.«
»Um Namen in den Raum zu stellen, hättest du ein Rundschreiben machen können und jeder kritzelt einen Strich unter jeden Namen, den er für geeignet befindet. Die mit den meisten Strichen kommen in die engere Wahl. Auch so geht Demokratie.«
Es war nicht nur Mudrack, der nach Luft schnappte, es war auch Sven Krüger, der dasaß mit einem Kopf, rot wie eine Rübe und einem Pullover gelb wie eine Zitrone. Er holte tief Luft, ehe er sich wieder wichtig geben konnte.
»Ich bin mir sicher«, sagte er, doch die Atemlosigkeit machte ihn unsicher, »dass wir alle, die wir hier sitzen, Besseres zu tun hätten, als uns deine Witze anzuhören.«
Links neben Krüger der Sportlehrer Franz brummte beinahe unverständlich:
»Also doch keine Demokratie?«
»Wenn es nur pro forma sein sollte, dass wir hier sitzen, können wir auch pro forma eine geheime Abstimmung machen. Ich denke, jeder kennt die sozialen