Four Kids. Byung-uk Lee

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Four Kids - Byung-uk Lee

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rannte er Soo-Jung hinterher, der schon fast von der Dunkelheit verschluckt worden war. Die kalte Nachtluft traf ihn wie ein Fausthieb und er verspürte nun Übelkeit und Ekel, mehr über sich selbst als vom Reisschnaps.

      „Soo-Jung! Soo-Jung, komm zurück!“, rief er noch in die Dunkelheit, aber bis auf sein Echo, das von den umliegenden Häuserblocks zurückschallte war, war nichts mehr zu vernehmen.

      Rote Tapeten

      Sie saß mit ihrem Bruder auf der Mauer und blickte in den stahlgrauen Himmel, wo die Krähen wachsam über das Viertel kreisten. Hässliche Vögel, aber wenn sie flogen, besaßen sie trotzdem eine gewisse Anmut.

      „Wo wollen die hin?“, fragte Ji-Min mit seinem knotigen Finger auf das schwarze Gefieder deutend.

      In solchen Momenten liebte sie ihren Bruder besonders. Seine hinreißende Wissbegier entzückte sie, dass sie zuerst über seinen Topfschnitt strich, bevor sie eine Antwort gab.

      „Ich weiß es nicht. Es sind Vögel. Sie sind frei. Die können hinfliegen, wohin sie wollen.“

      „Wieso können wir nicht so sein?“

      „Menschen folgen bestimmten Regeln und Gesetzen. Die gibt es bei Krähen nicht. Wir brauchen sie, die Tiere nicht.“

      Über die Welt wusste sie zwar nicht besonders viel, aber sie versuchte ihrem Bruder das Wenige zu vermitteln, was sie gelernt hatte. Bildung war der einzige Kompass, der ihn aus diesem Elend herausführen konnte. Weg von ihrem ständig betrunkenen Vater, weg von diesem Gestank und weg von der Vergangenheit. Ihre Mutter hatte diesen Schritt gewaltsam erzwungen. Den Preis dafür zahlten sie und Ji-Min.

      „Hyuna, lauf zum Laden und mach ein paar Besorgungen!“ Er stand im Unterhemd in der Kälte, ausnahmsweise nüchtern. Die Schlappen viel zu groß für seine Füße und die Schlange aus Leder, die seine graue Stoffhose oben hielt, umklammerte eng seinen mächtigen Bauch.

      „Kann ich mitkommen?“, fragte Ji-Min.

      „Nein, du bleibst hier“, raunte Jun-Su.

      Mit einem leeren Plastikbeutel lief sie durch die grauen Gassen. Erneut fuhr sie mit dem Finger die Risse des Gemäuers entlang. Die Tüte bewegte sich willenlos im Wind. Vielleicht würde sie ihrem Bruder die Shrimpscracker kaufen, die er so mochte, und sich selbst eine Fruchtgummistange. Der LADEN, so bezeichnete ihr Vater eine kleine Baracke, die vollgestopft mit allerlei Getränken und Snacks war. Eine Bezeichnung, die zum plumpen Charakter Jun-Sus passte. Manchen Menschen sah man vieles an. Sie brauchten kein Wort zu sagen. Allein ihre Erscheinung ließ Schlüsse zu. Der Gedanke war für Hyuna zu einfältig, aber ihre bisherigen Erfahrungen hatten ihn bestätigt. Klischees wollte jeder vermeiden, aber sie gehörten zur Regel.

      Den grauhaarigen Mann, bei dem sie schon jahrelang einkaufte, kannte sie bis heute nicht mit Namen. Er saß nur still auf seinem Plastikstuhl und schaute sich die Sportnachrichten an. Die neusten Tabellenstände in der Baseballliga, die aktuellen Fußballergebnisse oder Sumokämpfe aus Japan. Beim letzten murmelte er gelegentlich ein paar höhnische Kommentare und nahm Hyuna kaum wahr, die in aller Ruhe ihre Tüte mit Crackern, Süßigkeiten und Alkohol füllte. Wie ein aufgewachter Hund blickte der Verkäufer auf, als sie zahlen wollte. So verlief jeder Einkauf, und Hyuna war froh darüber. Keine Fragen, keine Unterhaltung, nur das Nötigste. Sie hatte es satt, sich mit anderen Nachbarn aus dem Viertel über ihre Familie unterhalten zu müssen. Manchmal kam sie sich vor, als würde sie in einem Glaskasten sitzen, in dem alle hineinstarrten. Die neugieren Voyeure, die dummen Schwätzer und die infamen Gerüchteverbreiter. All diese Menschen konnte sie nicht mehr sehen.

      Wie konnten die Leute nur so sein?

      Nach dem Einkauf saß sie wieder mit ihrem Bruder auf der Mauer. Die Cracker krachten zwischen seinen kleinen Milchzähnen.

      „Hört sich an, als würdest du einen Baum fällen“, scherzte Hyuna. Beide kicherten. Während ihr der süßliche Geschmack der Fruchtgummistange noch auf der Zunge lag, blickte sie wieder zum Himmel. Die Vögel waren verschwunden, genauso wie ihr Vater. Grimmig hatte er in die Tüte gegriffen und sich nur die Sojuflaschen rausgenommen. Wie ein hässlicher Troll war er dann wieder in seine Höhle getrottet. Als sie die rasselnden Ketten eines Fahrrads hörte, blickte sie nach unten.

      „Und Lust auf eine kleine Spritztour?“

      Das kahle Engelsgesicht Soo-Jungs lächelte sie an. Hyuna blickte besorgt über die Mauer zum Haus. Er stand nicht draußen. Sie presste ihren Zeigefinger auf die Lippen, um Ji-Min zu signalisieren, dass er Stillschweigen bewahren sollte. Wie zu erwarten nickte ihr Bruder brav. Die Belohnung: ein Kuss auf Stirn und Wange und einmal Kitzeln, das mit gellendem Lachen erwidert wurde. Mit rasanter Geschwindigkeit nahm das Rad an Fahrt auf. Wenn es über ein Schlagloch fuhr, spürte sie am Hintern die ganze Macht des harten Gepäckträgers. Der Wind blies ihr um die Ohren und ihr Pony bäumte sich auf. Sie mochte seinen Körper. Nicht weil er schlank war, sondern vielmehr die Wärme, die von ihm strömte. Ihre schmalen Finger ertasteten seine Rippen. Aus Spaß zählte sie die Knochen.

      „Wohin fährst du?“

      „Ist eine Überraschung. Schließ deine Augen.“

      Sie tat es. Wenn sie jemanden mochte, gehorchte sie ihm blind. Mit geschlossenen Augen nahm sie die Welt um sich herum anders wahr. Sie hörte vieles und in ihrem Kopf entstanden Bilder, sodass sie trotzdem noch sehen konnte. Das summende Geräusch des Reifens, der auf dem Asphalt rieb, die kahlen Äste, geschaukelt vom Wind, und das bröckelnde Gestein. Eine Ausgeburt des Verfalls. Alles bedurfte der Pflege, sonst zerstörte es sich selbst. Häuser, Maschinen und die Seele. Lange war ihre Seele eine verrostete, alte Maschine gewesen, die nicht mehr funktionierte. Doch Soo-Jung hatte sie wiederbelebt. Und sie hatte wiedergefunden, was sie zu verloren geglaubt hatte, wie eine Münze, die in einen See geschmissen wurde und für ewig verschollen blieb. Das Fahrrad fuhr langsamer und sie schienen sich ihrem Ziel zu nähern.

      „Du kannst deine Augen wieder öffnen.“

      Sie standen vor einem hässlichen Betonklotz. Im Erdgeschoss hatte sich ein Nudelimbiss eingenistet, der nicht ins Gesamtbild passte, aber trotzdem dort hinzugehören schien. Die Scheiben waren beschlagen und das Kondenswasser perlte vom Glas ab.

      „Wohnst du hier?“

      Zufrieden nickte er, als handelte es sich um eine prächtige Villa.

      „Dort ist mein Arbeitsplatz und da im dritten Stock wohne ich.“

      Mit kindlichem Enthusiasmus deutete er auf ein mit weißen Vorhängen verziertes Fenster.

      Nachdem er sein Fahrrad an eine Straßenlampe gekettet hatte, ergriff er ihre Hand und führte sie. Sie mochte das. Alles wirkte so unscheinbar und doch erweckte es ihr Interesse. Manchmal konnten Menschen einen Ort interessanter machen, obwohl die Orte es selbst nicht waren. Ein gewöhnliches Gebäude konnte Bedeutung erlangen, wenn ein berühmter Schriftsteller darin verstorben war, auf einer verwilderten Wiese konnte vor Jahrhunderten eine entscheidende Schlacht stattgefunden oder auf einem einfachen Stuhl ein berühmter Politiker gesessen haben, um ein historisches Dokument zu unterzeichnen. In diesem Fall war dieser schlichte Wohnkomplex bedeutsam für sie, da ein Junge darin wohnte, den sie mochte. Ein Grund, der so schlicht und schön war, wie Liebe nur sein konnte. Er ergriff ihre Hand und gemeinsam betraten sie den Wohnblock. Nachdem Soo-Jung mit ihr an dem Imbissbesitzer vorbeihuschte, der nur verdutzt dreinblickte, stiegen sie mühsam die Treppen hoch. Dabei drückte Hyuna

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