Untote leben länger. Philip Mirowski

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Untote leben länger - Philip  Mirowski

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Depression, verstanden werden, geleitet von äußerster Klarheit darüber, was es mit allen Mitteln zu verhindern gilt: Planwirtschaft und starke Sozialstaaten. Entgegen den bornierten Interessen einiger Industriekapitäne (auch innerhalb der MPS) begriffen neoliberale Intellektuelle, dass dieses allgemeine Ziel umfassende und langfristige Reformbemühungen erforderte, die das gesamte soziale Gewebe einschließlich der Unternehmenswelt betreffen. Anstatt lediglich als passive Sprachrohre der Kapitalisten aufzutreten, zielten die Neoliberalen auf eine gründliche Umerziehung aller Parteien, um den Tenor und Sinn von Politik zu verändern – nicht mehr und nicht weniger.46 Ihren direkten Adressaten erkannten neoliberale Intellektuelle in der zivilgesellschaftlichen Elite: Es galt vor allem, andere Intellektuelle und Meinungsführer zukünftiger Generationen für sich zu gewinnen, und das primäre Mittel dazu bestand in einer Neudefinition des gesellschaftlichen Stellenwerts von Wissen, eine Operation, die zum Leitmotiv ihrer theoretischen Tradition avancierte. Wie Hayek in seiner Adresse an das erste Treffen der MPS erklärte:

      »Doch die für die Politiker unverrückbaren, von der öffentlichen Meinung diktierten Schranken der Machbarkeit dürfen für uns nicht als solche gelten. Die öffentliche Meinung zu solchen Fragen ist das Werk von Männern wie uns […], die das politische Klima geschaffen haben, in dem sich die Politiker unserer Zeit bewegen müssen […]. Ich bin mir sicher, dass die Macht etablierter Interessen gewaltig übertrieben wird, vergleicht man sie mit dem allmählichen Vordringen von Ideen.«47

      Die Struktur der Schachtelpuppe wirkte wie ein Verstärker, der die Stimme jedes beliebigen Mitglieds des Denkkollektivs durch eine Reihe scheinbar eigenständiger Organisationen, Personen und Übertragungskanäle verbreiten konnte, ihr dadurch zu Widerhall und Gewicht verhalf und den Ideen zum gewünschten Zeitpunkt einen Resonanzraum bot. Man muss mit Bewunderung anerkennen, dass neoliberale Intellektuelle den politischen und organisatorischen Charakter von Wissen und Wissenschaft in der Moderne genauer begriffen haben als ihre linken Gegenspieler und dass sie somit für jeden, der sich für die Archäologie des Wissens interessiert, eine würdige zeitgenössische Herausforderung darstellen.

      Natürlich sollte man den damaligen wie heutigen Neoliberalismus nicht auf die MPS und die ihr angeschlossenen Denkfabriken reduzieren – das wäre eine Karikatur der Geschichte. Meine Hervorhebung der MPS und der russischen Schachtelpuppe richtet sich gegen die Tendenz unter Linken, ihn als eine hoffnungslos diffuse, konturlose Bewegung zu betrachten. In den folgenden Kapiteln blicken wir über den begrenzten Wirkungsradius der MPS hinaus, indem wir untersuchen, wie neoliberale Vorstellungen in der Wirtschaftswissenschaft und in vielen Facetten des Alltagslebens Fuß fassen konnten. Ein weiteres Moment sind die Folgen des Wandels rechter wie linker Parteien, die in der Literatur meist deutlich mehr Berücksichtigung finden. Doch zumindest für den Zeitraum bis zu den Achtzigerjahren – als der Vormarsch neoliberaler Ansichten und somit der Erfolg der ursprünglichen Netzwerke die Zahl der selbsternannten Stammväter des Neoliberalismus rapide steigen ließ – lässt sich das MPS-Netzwerk als hinreichend präzise Chiffre für das neoliberale Denken in seiner Entstehungsphase verwenden.

      In der gegenwärtigen Wirtschaftskrise ist die Bedeutung der MPS weniger klar. Auch wenn detaillierte Untersuchungen noch ausstehen, erscheint sie von außen betrachtet nicht mehr wie in den Fünfziger- und Sechzigerjahren als ein Treibhaus utopischer Entwürfe und rigoroser Debatten, die in einem nächsten Schritt an die äußeren Schichten der russischen Puppe übermittelt werden. Ein Teil des Problems besteht offenbar darin, dass die Mitgliedschaft in der MPS mit dem politischen Erfolg der Neoliberalen zu einer Art Prestigeobjekt geworden ist, das namentlich von reichen Müßiggängern mit intellektuellen Ambitionen geschätzt wird. Während sich ihre Zusammensetzung zugunsten von gewöhnlich eher in Davos oder einem exklusiven Club von Reichen anzutreffenden Personen verschob, büßte die MPS tendenziell ihre Rolle als hochdynamischer Debattierclub ein. Diese Funktion übernehmen heute offenbar eher äußere Schichten der Puppe wie bestimmte akademische Zentren und die großen etablierten Denkfabriken. Bei Einsetzen der Krise bestand zwar zunächst die Tendenz, zum alten Modell der MPS als einer Kardinalsversammlung zurückzukehren, doch wie im ersten Kapitel gezeigt, wurden dabei bestenfalls ein halbes Jahrhundert alte Lehrsätze wiedergekäut. Allerdings werden wir im sechsten Kapitel die Möglichkeit erörtern, dass die äußeren Schichten selbst ein umfassendes politisches Reaktionsmuster für schwere Krisen entwickelt haben. Trifft dies zu, dann wäre der Neoliberalismus im Angesicht der Krise nicht etwa, wie von manchen Autoren behauptet, diffuser, sondern kohärenter geworden.

      Kurzer Abriss der neoliberalen Wirtschaftslehre

      In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich das neoliberale Projekt von anderen konservativen Denkströmungen dadurch unterschieden, dass es bewusst als ein vielschichtiges soziologisches Unternehmen der kontinuierlichen transnationalen Entwicklung, Verbreitung und Popularisierung von Lehren angelegt war, die sich mit der Zeit in Reaktion auf theoretische Einwände und äußere Ereignisse wandeln sollten. Es glich nie einem im Konzil von Trient festgelegten Katechismus, sondern bewies durchweg Flexibilität.48 Der Lackmustest für Neoliberale waren in der Regel bestimmte politische Ziele, die man ihnen in ihren Lehrjahren im Denkkollektiv eingeimpft hatte, doch selbst diese konnten Thema heikler Debatten sein. Gleichwohl brachte der Neoliberalismus als soziologisches Denkkollektiv schließlich eine relativ verbindliche Weltanschauung hervor, die mehr oder weniger verbindliche Auffassungen über Märkte und politische Ökonomie einschließt. In einem Buch über das Verhältnis der Neoliberalen zur Krise müssen diese Auffassungen natürlich ein zentrales Thema sein. Gewisse Kenntnisse darüber sind allein schon deshalb wichtig, weil sie uns vor der naiven Annahme bewahren, das neoliberale Krisenverständnis sei eine Art bibeltreuer »Marktfundamentalismus«.

      Auch wenn geistige Gebrauchtwarenhändler auf der Rechten gerne lauthals bekunden, die »freie Marktwirtschaft« komme ihren religiösen Auffassungen entgegen (oder sogar umgekehrt), behindert es ein adäquates Verständnis, beides als »Fundamentalismus« gleichzusetzen – ein in der Linken leider zunehmend übliches Schimpfwort. Der Neoliberalismus weist keine Spur einer altertümlichen Religion auf; nicht nur, dass er über keinen Urtext verfügt, die Neoliberalen ziehen sich auch nicht auf einen Obskurantismus zurück, sosehr manche ihrer Sympathisanten dies offenbar auch getan haben mögen. Man wird sie nicht oft bei der Frage »Was würde Hayek tun?« ertappen. Vielmehr haben sie im Lauf der Zeit eine Reihe komplex verbundener und sich teilweise überschneidender Modelle hervorgebracht – etwa Ludwig Erhards »soziale Marktwirtschaft« und Herbert Gierschs kosmopolitischen Individualismus, Milton Friedmans »Monetarismus« und die Theorie der rationalen Erwartungen, Hayeks »spontane Ordnung« und James M. Buchanans konstitutionelle Ordnung, Gary Beckers »Humankapital« und Steven Levitts »Freakonomics«, den Klimaskeptizismus des Heartland Institute und das Geoengineering des American Enterprise Institute, oder – ein besonders passendes Paar – Hayeks »Wirtschaftsrechnung im Sozialismus« und die Chicagoer Effizienzmarkthypothese. Etliche klassischliberale Lehren wurden im Zuge dessen über Bord geworfen, ohne dies klar zu benennen – so etwa die Ablehnung der politisch bedenklichen Macht von Monopolen, die Skepsis gegenüber starken geistigen Eigentumsrechten oder die Kritik am Finanzsektor als einer Quelle makroökonomischer Störungen.49

      Wer kein Historiker ist, bekommt das Phänomen Neoliberalismus angesichts dieser Wandlungsfähigkeit nur schwer zu fassen, und wer eine bündige Definition sucht, wird kurzerhand kapitulieren. Skeptiker spotten oft, wenn sie von einer neoliberalen Doktrin hören, die sich gerade durch Veränderbarkeit auszeichnen soll, doch sie sollten wenigstens zur Kenntnis nehmen, dass die Wissenschaftsforschung keine Bedenken dagegen hat, auch in solchem Wandel eine funktionale Identität auszumachen, indem sie Institutionen und wechselnde – aber der Zahl nach begrenzte – Akteure untersucht und dies mit altmodischer Ideengeschichte kombiniert. Was bedeutete es zum Beispiel, sich in den Sechziger- und Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts mit Quantenphysik zu befassen? Das Feld war nicht auf einige an schweren Apparaten arbeitende Forschungsteams und eine Handvoll Genies auf der Suche nach der Großen vereinheitlichten Theorie beschränkt, sondern reichte bis zu Hippie-Kommunen und der New-Age-Szene.50 Solange wir ebenfalls über mehrere Einschlusskriterien verfügen und die Akteure und Lehren des

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