Untote leben länger. Philip Mirowski

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Untote leben länger - Philip  Mirowski

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Rummel ein wirklich »Neues Ökonomisches Denken« hervorbringen?3 Wie zu erwarten, gab es in Bretton Woods kaum eine ernsthafte Debatte, ja nicht einmal einen flüchtigen Überblick über mögliche Alternativen in der Wirtschaftswissenschaft; stattdessen herrschte eine so drückende Nostalgie, dass die üppigen Desserts ranzig wurden. Eine bunte Riege von B-Promis – nach John Maynard Keynes sollte kein Ökonom je wieder die Bekanntheit eines Arnold Schwarzenegger, Bob Dylan oder auch nur Malcolm Gladwell erlangen – hoffte auf den erregenden Schauder einer gefahrlosen Grenzüberschreitung: Ihr Drang zur Dissidenz wurde durch die nüchterne Einsicht gezügelt, dass konkrete Abweichungen von der wirtschaftswissenschaftlichen Orthodoxie, der sie schließlich ihren bescheidenen Ruhm zu verdanken hatten, eher ungeschickt wären. An dem Dogma, dass in den letzten 75 Jahren schlechterdings nichts geschehen sei, was den Debattenraum über die vermeintlich durch Keynes und Hayek markierten Grenzlinien hinaus verschoben habe, zeigte niemand auch nur das leiseste Unbehagen. Viele Redner genossen es sichtlich, in den heiligen Hallen von Bretton Woods den Geist Keynes’ heraufzubeschwören. Meine Hoffnung, das INET könnte alternativen Strömungen der Wirtschaftswissenschaft ein Forum bieten, war eindeutig albern gewesen, denn wären dort Postkeynesianer, Regulationstheoretiker, Institutionalisten, Anhänger Hyman Minskys oder gar Marxisten chinesischer Couleur aufgetreten, dann hätte die intellektuelle Schickeria die Konferenz gemieden wie die Pest.4 Doch das alptraumhafte Szenario beschränkte sich nicht auf das INET oder George Soros. Es erwies sich als viel umfassender.

      Von den White Mountains nach Mont Pèlerin

      Vom 5. bis 7. März 2009 hielt die Mont Pèlerin Society (MPS) in New York, dem Ground Zero der Weltwirtschaftskrise, ein Sondertreffen ab, um die Folgen der Erschütterungen für ihr politisches Projekt zu diskutieren. Rund hundert Mitglieder und ebenso viele Gäste versammelten sich unter dem Titel: »Das Ende des globalisierenden Kapitalismus? Klassisch liberale Antworten auf die globale Finanzkrise«. Zu dieser Zeit fürchteten viele Köpfe der neoliberalen Bewegung, die Krisenlawine könne sich für sie selbst zu einem furchtbaren Alptraum entwickeln. Schließlich war das entscheidende Ereignis, das ursprünglich zu dieser Organisation des Neoliberalen Denkkollektivs (NDK) geführt hatte, die Große Depression der Dreißigerjahre gewesen. Die anfangs bunt zusammengewürfelte Gruppe um Friedrich Hayek, Ludwig von Mises, Lionel Robbins und Milton Friedman musste damals die schmerzhafte Erfahrung machen, für ihre Antwort auf die schwere Krise verspottet, attackiert und an den Rand des Diskurses abgedrängt zu werden, denn »der wirtschaftliche Motor des Fortschritts«, der Markt, wollte partout nicht anspringen. 1947 versammelten sie sich am Mont Pèlerin, um über Wege zu ihrer intellektuellen Rehabilitierung zu beratschlagen. In vieler Hinsicht war die erste Generation der Neoliberalen den Rest ihres Lebens mit der Bewältigung der Schmach beschäftigt, dass Keynes, Franklin D. Roosevelt, Wissenschaftler wie J. D. Bernal, eine Phalanx von Marktsozialisten wie Oskar Lange und Jacob Marschak sowie etliche europäische politische Denker über sie triumphiert und sie ausgegrenzt hatten. Angesichts dessen war es im Jahr 2009 kein abwegiger Gedanke, dass die Neoliberalen der dritten Generation in mächtige Schwierigkeiten geraten könnten.

      Früher einmal hätte das neoliberale Exekutivkomitee in einer solchen Notsitzung versucht, durch kreative Denkansätze die bestmögliche Antwort auf den drohenden Zusammenbruch seiner Weltanschauung zu finden. In einer Reprise der Vierzigerjahre hätten die Neoliberalen des Jahres 2009 zum Beispiel neue Denkmodelle über den Markt entwickeln können – eine Verbindung ursprünglich etatistischer Konzepte mit einer Neudefinition der »wahren Natur« von Marktbeteiligung hätte auch der Linken Wind aus den Segeln genommen. Für den Historiker ist es verblüffend, wie häufig die Neoliberalen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ideen der Linken zweckentfremdet haben. Geht man jedoch die Beiträge zur New Yorker Konferenz durch, dann findet man vor allem vorhersehbare Plattitüden und fade Neuauflagen der Behauptung, die bösartige Regierung habe die Krise verursacht.5

      Deepak Lal stellte in seiner Ansprache die interessante Frage, wie es zur Krise kommen konnte, wo doch so viele »Freunde der MPS« wie Alan Greenspan und Jean-Claude Trichet für das Weltfinanzsystem verantwortlich gewesen seien, und deutete an, möglicherweise hätten sie sich nicht ausreichend um »solides Geld« gekümmert. Niall Ferguson hob die Moral der Truppe mit dem Katechismus, die staatliche Regulierung – nicht etwa ein Versagen der Marktwirtschaft – müsse die Krise verursacht haben, und ging zudem seinem persönlichen Lieblingsthema einer möglichen Schuld Chinas nach. Gary Becker erklärte, anstatt in Reaktion auf die Krise mit allerlei staatlichen Heilmitteln herumzuhantieren, sollte man besser gar nichts tun. (Das vorliegende Buch zeigt, dass dies in Wirklichkeit gar nicht die Position der Neoliberalen ist.) Insgesamt herrschte auf der Konferenz die Stimmung vor, dass Neoliberale – wobei die eigentlich bemühte Bezeichnung »klassisch liberal« als eine in späteren Kapiteln zu erörternde Nebelkerze diente – trotz der etwas beängstigenden Krise im Grunde weitermachen sollten wie gehabt.

      Nach der Blütezeit der MPS im Anschluss an den Krieg sahen manche Linke in all dem nun mitunter einen Beleg für ihren Niedergang; vielleicht waren die Konferenzteilnehmer, wie die meisten Ökonomen, aber auch einfach von den Ereignissen überrascht worden. Doch so oder so scheint es heute, dass die Neoliberalen unbeschadet durch die Krise gekommen sind. Sie hat dem NDK keineswegs wie in den Dreißigerjahren einen Ruck zur Erneuerung gegeben, sondern es in seiner Unnachgiebigkeit, Redundanz und Einfallslosigkeit noch bestärkt. Wie heute deutlich wird, lagen die Neoliberalen mit ihrer Beharrlichkeit durchaus richtig, denn entgegen allen Erwartungen hat die Krise kaum etwas verändert. Allerdings haben sie nicht kampflos gewonnen – das wäre eine armselige Interpretation der Ereignisse. Neoliberale lassen eine ernsthafte Krise nicht ungenutzt verstreichen: Um ihren Triumph sicherzustellen, haben sie bestimmte Schachzüge unternommen. Dieses Buch soll die Strategien der Neoliberalen dokumentieren und ihre Erfolge begutachten, zu denen häufig auch die Wirtschaftswissenschaftler beigetragen haben.

      Dass die Ökonomen von den White Mountains bis nach Mont Pèlerin nur abgegriffene Antworten auf die Krise parat hatten, ist inzwischen gängige Meinung. Allerdings fällt die Bilanz für die zwei großen politischen Lager geradezu gegensätzlich aus: Während die Rechte die Krise mit monotonen Wiederholungen erstaunlich gut überstanden hat, büßte die bereits vor der Krise in schlechter Verfassung befindliche Linke durch sie noch weiter an Boden ein. Jenseits von Ausreden bleibt die Frage, inwieweit das unerwartete Erstarken der Rechten nach der Krise auf dem neoliberalen kulturellen Gefüge beruht, das in der Phase von 1980 bis 2008 aufgebaut wurde, und umgekehrt, inwieweit die Linke ihre Niederlage selbst herbeigeführt hat. Diese Frage verdient meines Erachtens eine gründlichere Untersuchung.

      An der Struktur des globalen Finanzsystems hat sich seit der Krise nichts substanziell geändert.6 Die politischen »Reformen« sind in Europa wie in den Vereinigten Staaten bestenfalls oberflächlich ausgefallen. Auch nach 2008 zeigten etwa der »Flash Crash« im Mai 2010, bei dem die Kurse an der Wallstreet innerhalb von Minuten extrem einbrachen, das Debakel des Börsengangs des US-Handelsplatzes BATS im März 2012 und die durch einen Softwarefehler ausgelöste Kernschmelze des Finanzdienstleisters Knight Capital im August 2012, dass die Fehlfunktionen des Marktes viel gravierender sind, als die übliche Fixierung auf Hypothekenverbriefungen und betrügerische Bankgeschäfte nahelegt, doch eine konzertierte Reaktion darauf blieb aus. Zum ersten Mal seit dreißig Jahren treten stagnierende Beschäftigung und anhaltende Inflation wieder gleichzeitig auf, auch wenn die zuständigen Behörden dies beharrlich zu vertuschen suchen. Bei der Spekulation mit Rohstoffen (besonders Öl) und bei Börsengängen (wie dem von LinkedIn und des Informatikkonzerns Fusion-io) haben sich erstaunlich schnell wieder Blasen gebildet. Der weitreichende Konsens, staatliche Ausgabenkürzungen seien die beste Medizin gegen die Krise, zeigt unterdessen, dass die öffentliche Debatte auf das analytische Niveau der frühen Dreißigerjahre herabgesunken ist. Die MPS ist einer schmachvollen Widerlegung ihrer wirtschaftspolitischen Vorstellungen offenbar entgangen – eine dramatische Niederlage haben vielmehr ihre Gegner auf der »moderaten« Linken erlebt. Da innovative neoliberale Analysen offenkundig fehlen, drängt sich der Verdacht auf, dass diese Schwäche der Linken nicht zuletzt in dem begründet liegt, was in der wirtschaftswissenschaftlichen Orthodoxie als staatsinterventionistische Lehre gilt. Aber die Ursachen

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