Zwei Erzählungen. Baum Oskar

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Zwei Erzählungen - Baum Oskar

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      Zwei Erzählungen

      DER GELIEBTE

      Der schweigsame kleine Pope schritt mit der Laterne voraus und bezeichnete dem »Herrn Unteroffizier«, der ihm offenbar durch seine Kenntnis des Russischen eine furchtsame, tiefe Ergebenheit abnötigte, die Häuser, deren Bewohner geflüchtet oder die schon von den Russen nach Leinen- und sonstigem Verbandzeug durchsucht waren, aber Richner hatte ihn im Verdacht, daß er so vielleicht nur seine besondern Schützlinge vor ihm bewahren wollte. In den Sälen der Schule und des Gemeindeamts drunten lagen die Blutenden von Stunde zu Stunde immer dichter beieinander auf ihrem Stroh.

      In eines dieser Häuser nun, aus dem er Geräusche zu hören glaubte – es war eines der letzten vereinzelten Gehöfte am Waldrand jenseits des Flusses – drang er trotzdem ein, fand jedoch wirklich alle Räume zerstört und verlassen und wollte schon wieder fortgehen, als er am Ende eines Ganges vor einer verschlossenen Tür ein junges Mädchen auf einem Reisekorb sitzen sah, regungslos mit gesenktem Kopf, als ob sie schliefe. Er trat mit dem Licht vor sie hin. Sie hatte offene Augen, blickte sinnend auf ein Stückchen Boden vor sich. Sie merkte immer noch nicht, daß jemand gekommen war, obgleich beide sie anriefen und miteinander laut von ihr sprachen.

      Der Pope schien aufrichtig verwundert und geradezu beunruhigt über ihre Anwesenheit, fragte sie, warum sie denn nicht mit den Ihren geflüchtet sei und sich seither hier versteckt halte, daß kein Mensch im Dorf unten eine Ahnung habe, sie sei da? Er redete nachsichtig sanft wie zu einem kranken Kinde, nannte sie bei ihrem Vornamen, warb geduldig auf alle mögliche Weise um ein Lebenszeichen und hob ihr zuletzt das Kinn, als ihr teilnahmsloses stumm gesenktes Gesicht nicht mehr zu ertragen war.

      Sie sah ihn mit großen erstaunten Augen an, als erwache sie und erkannte ihn wohl nicht gleich. Dann glitt ein Zittern über ihr Gesicht, sie lächelte verlegen und fragte in ziemlich natürlichem höflichem Ton, was die Herren hier wünschten?

      Richner wollte die Dinge aufzählen, die er brauchte, aber der Pope machte ihm ein Zeichen, daß das hier zwecklos sei, ging gar nicht auf ihre Frage ein, sondern redete ihr zu, doch nicht hier allein zu bleiben, lieber mit ihm zu guten Freunden zu gehen.

      Das Mädchen lächelte nur müde und gequält und sah stumm an ihm vorbei auf den Deutschen. Sie hatte ein wenig schrägliegende dunkle Augen unter sehr langen Wimpern. Das abgezehrte, von Leiden vergeistigte Gesicht saß seltsam auf dem bäurisch breiten untersetzten Körper. Die hellen Haarmassen auf dem Kopf schienen noch reicher dadurch, daß sie, nur unordentlich und flüchtig aufgesteckt, über Ohren und Hals hinabfielen.

      Mit wachsender rätselhaft angstvoller Spannung durchforschte ihr Blick Richners Mienen. Jetzt trat sie auf ihn zu: »Ein fremder guter Mensch!« sagte sie nachdenklich und schüttelte langsam den Kopf, »ein solches Gesicht kann nicht lügen!«

      Der Pope faßte sie bei den Händen und wollte sie mit sanfter Gewalt fortführen. Aber ein Zucken wie Ekel lief ihr durch den Leib und sie schüttelte das Männchen zornig ab. »Wie lange bleiben Sie noch hier?« fragte sie Richner.

      »So noch ein bis zwei Wochen vielleicht,« sagte er, verwirrt von der sonderbaren Frage, »bis die Kleinigkeiten da geheilt sind,« er deutete auf die verbundenen Stellen.

      »Nun, zwei Wochen sind auch etwas,« sie nickte einigermaßen befriedigt, »nicht wahr, Sie helfen gern, wo es nötig ist? Und wenn’s überdies ein unglückliches Mädchen betrifft? Es ist etwas sehr Wichtiges, von dem ich rede.« Sie senkte die Stimme. »Werden Sie kommen, sich danach zu erkundigen? Aber allein!«

      Der Pope winkte Richner voll Unruhe, gar nicht zu antworten, machte ihm eifrig Zeichen, zuckte die Achseln und ging zur Ausgangstür voraus.

      »Ich bin nicht verrückt,« flüsterte das Mädchen Richner zu, »kommen Sie nur!«

      Als sie dann draußen den Weg fortsetzten, erzählte der Pope, daß das Mädchen noch vor gar nicht langer Zeit fröhlich und gesund und viel schöner als jetzt gewesen sei. Ihr Bräutigam war im Frühjahr verschwunden, wahrscheinlich desertiert. Er hatte sich verabschiedet, um zu seinem Regiment abzugehen und seither fehlte von ihm jede Spur. Sie aber wollte es nicht glauben und wartete immerfort auf Nachricht von ihm. Ihre Angst, ihre Sorge und Unruhe saß ihr wie ein immer tiefer eindringender Fremdkörper in Seele und Leib. Die unabsehbare Trennung, die stete Ungewißheit und namenlose Verlassenheit war zu viel für sie und die Natur richtete eine Mauer gegen das Unerträgliche auf: ihr Geist verwirrte sich.

      Als Richner am nächsten Morgen, nicht ganz zufällig, an dem Hause vorbeikam, sah er das Mädchen hinten im Garten lässig bei irgendwelchen Erdarbeiten. Er trat an den Zaun und sah ihr zu.

      Da hob sie den Kopf und erkannte ihn augenscheinlich, richtete sich auf, stützte sich auf den Spaten und betrachtete ihn. »Herr,« sagte sie, »Sie sehen meinem Bräutigam ähnlich!«

      Er fuhr zusammen; ein Schauer überlief ihn bei diesem unsäglich innigen zutraulichen Ton, der von einem schwer zurückgedrängten Schmerz unsicher schwankte.

      Der Pope hatte ihm gestern erzählt, daß ihr eine Zeitlang bei jedem eine Ähnlichkeit mit ihrem Bräutigam aufgefallen war. Sie hatte ihn wohl immer vor Augen, sah ihn überall um sich her und sein Bild verdeckte ihr jede Gestalt und jedes Gesicht.

      Sie trat zu ihm an den Zaun: »Wollen Sie nicht zu mir hereinkommen?« fragte sie schüchtern, »ich habe es hier so einsam!«

      Er blickte unschlüssig, prüfend in ihr ernstes blasses Gesicht, ganz verwirrt von der erwartungsvollen Spannung darin.

      »Ach ja, nicht wahr, Sie kommen?« Sie faßte ihn beim Arm und sah ihm, indem sie ein wenig den Kopf neigte, von unten herauf in die Augen, »Sie werden bei mir bleiben, ja? bis – bis – Es ist so unheimlich hier im Hause allein! Gewissermaßen allein oder eigentlich viel schlimmer als das! Und weithin überall nur leere Häuser! Ich war schon so am Rande. Ich wußte nicht, daß ich auf jemanden wartete; erst als ich Sie sah, fiel es mir ein. Und Sie werden auch etwas für mich tun, nicht wahr? Mir helfen, wenn ich Sie sehr bitte. Werden Sie, werden Sie?« Das ängstlich gespannte Kinderflehen in ihren Augen hatte etwas unsäglich Hilfloses, Verzweifeltes.

      Die Tränen stiegen ihm auf. »Ja, ja, natürlich!« sagte er eilig, »gern!«

      Sie nickte gerührt und streichelte seinen Arm. »Alles?« fragte sie leise und zaghaft, »und wenn es das Schwerste auf der Welt wäre?«

      »Alles,« erwiderte er ernst und eine Welle überströmender inniger Hingabe hob ihn hoch, er wäre in dem Augenblick wirklich alles für dies fremde Geschöpf zu tun imstande gewesen.

      Sie stand eine Weile und atmete tief. Dann winkte sie ihm entschlossen, ihr zu folgen und ging eilig quer über den Garten dem Hause zu.

      Er sah nach der Gartentür aus. Ja, sie war ganz nahe, aber geschlossen. Das Mädchen wandte ungeduldig den Kopf nach ihm. Da kletterte er denn, wiewohl es mit dem wunden Bein einigermaßen beschwerlich war, über den Zaun. Vor dem Hause hielt sie an und wartete auf ihn.

      Er stand nun vor ihr.

      »Ich weiß ja nicht, ob es nützen wird,« sagte sie mutlos und sann mit halbgeschlossenen Augen vor sich hin, »aber tun muß man es doch! Man muß doch!« Eine Verzweiflung zuckte in ihrem weißen Gesicht, die nicht niederzuzwingen war. Ihr Mund, ihre Nasenflügel, ihre Augenlider zuckten.

      »Worin soll ich Ihnen helfen?« fragte er nach einer geraumen Weile, um sie an seine Anwesenheit zu erinnern.

      Sie sah auf: »Ich werde es Ihnen zuerst erzählen,« und sie wies auf die Bank neben der Tür, ohne sich selbst zu setzen. »Wissen Sie, ich hätte ja einfach jemanden aus dem Dorf unten rufen können. Der Pope hätte mir’s auch getan. Aber ich muß einen Fremden dazu haben. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen

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