Cooldown. Markus Vath

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Cooldown - Markus  Vath Dein Leben

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Wasser und besserer medizinischer Versorgung sechzig Prozent weniger Kinder als 1970. […] Auch die landwirtschaftliche Produktivität nimmt zu: Seit den siebziger Jahren hat sich die Nahrungsmittelproduktion in den Entwicklungsländern verdreifacht. Mittlerweile verlieren mehr Menschen gesunde Lebensjahre durch Übergewicht als durch Unterernährung.«4 Und dennoch glauben beispielsweise 75 Prozent der Deutschen, dass es den Menschen in der Dritten Welt »immer schlechter gehe«.5 Übrigens hat die Organisation Freedom House ermittelt, dass innerhalb der letzten 40 Jahre die Staaten, die man als »funktionierende Demokratien« bezeichnen kann, von 44 auf 90 zugenommen haben.6

      Wie man unschwer erkennen kann, ist die damalige Bahnfahrt gegen unsere heutige Informationsflut geradezu lächerlich. Genau wie auf dem politischen oder dem medizinischen Sektor schreitet die Menschheit im technologischen Bereich weiterhin mit Riesenschritten voran. Der Zeitforscher Stefan Klein hat berechnet, dass wir in einem Jahr genauso vielen Reizen ausgesetzt sind wie weiland Goethe in einem ganzen Leben. Und trotzdem schaffen wir es, unsere fünf Sinne leidlich zusammenzuhalten.

      Während die Industrialisierung nun ihre Anfänge bereits im 18. Jahrhundert hatte und bis ins 20. Jahrhundert andauerte (also über einen Zeitraum von knapp 200 Jahren!), datiere ich die tatsächlich »psychische Transformation«, die akute Auseinandersetzung des menschlichen Geistes mit den neuen Verhältnissen, in einen relevanten Zeitraum von ca. 1850 bis 1900. Diesen Zeitraum kann man als »Hochzeit der Industrialisierung« beschreiben. Die »Kinderkrankheiten« der Produktion waren überwunden, die europäischen Staaten ordneten sich (während Amerika gerade in den entscheidenden Krieg taumelte), die medizinische Forschung machte enorme Fortschritte. Gleichzeitig waren die beiden Weltkriege, die das Gesicht der Welt verändern sollten, noch nicht ausgefochten. Man hatte gesellschaftlich Zeit, nach innen zu schauen, buchstäblich wieder »zur Besinnung zu kommen«. Nicht umsonst fällt Sigmund Freuds Entwurf der »Psychoanalyse« in diese Zeit; 1896 verwandte er den Begriff zum ersten Mal. 1899 erschien dann sein erstes wichtiges Werk: »Die Traumdeutung«.7

      Freuds Verdienst war es – und ist es noch – den Blick der Menschen zurückgelenkt zu haben auf ihr Inneres, nachdem sie über 150 Jahre der industriellen Maschine gehuldigt hatten. Denn rein wirtschaftlich gesehen geschah in der Industrialisierung genau das: eine Verlagerung der Produktion weg von der Muskelkraft (muscle) hin zur maschinellen Produktion in Serie (machine). Handwerkliche, im großen Maßstab wenig zuverlässige, im Kosten-Nutzen-Verhältnis eher teure Produktionsweisen wurden von Fabriken abgelöst, die durch Massenproduktion Dinge von vorhersagbarer Qualität zu einem besseren Kosten-Nutzen-Verhältnis hervorbrachten.

      Betrachten wir den Zeitraum ab ca. 1860, so erkennen wir, dass unter Ärzten und Psychologen schon damals ein »Burnout«-artiger Begriff kursierte. »Neurasthenie« nannte der amerikanische Psychiater George Beard das Phänomen, das er vor allem in Ballungsgebieten wie New York City ausmachte: Schlaflosigkeit, Besorgnis, nervöses Zittern, psychosomatische Beschwerden etc.

       Neurasthenie: Seelenleid der Jahrhundertwende

      Im Grunde etwas Ähnliches wie das, was wir heute unter Burnout verstehen. Beard verfasste über Neurasthenie sogar ein Buch und überschrieb es etwas reißerisch: »American Nervousness«, die »Amerikanische Nervosität«.8 Beard brachte die Neurasthenie in Verbindung mit den schnellen Veränderungen der Moderne: der rasanten technologischen Entwicklung, dem neuen, noch unsicheren Selbstverständnis der amerikanischen Nation, ja sogar mit der aufkeimenden Frauenbewegung. Im Rückblick kann man sagen, dass Beard hier die Erste Transformation sehr treffend beschreibt: das Aufeinanderprallen des menschlichen Geistes mit tiefgreifenden technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen. Die daraus entstehende Unsicherheit griff tief in den menschlichen Organismus ein und sorgte für eine mentale, emotionale und physische Erschütterung. Und sie tut es noch heute in der Dritten Transformation. Die Erste jedoch klang nach der Jahrhundertwende ab und fand im Ersten Weltkrieg ihr abruptes Ende.

      Die Zweite Transformation ließ dann auch etwas auf sich warten – fast 50 Jahre. Zunächst schafften der Erste und Zweite Weltkrieg eine Zäsur von historischem Ausmaß. Besonders der Zweite Weltkrieg sorgte global für eine komplette Neuordnung der Verhältnisse – politisch, kulturell, technologisch:

      

Nachdem der Pulverdampf verraucht war, formierten sich im Kalten Krieg der kapitalistische und der kommunistische Block – eine Zweiteilung der Macht, die ein halbes Jahrhundert Bestand haben sollte. Westeuropa wurde als geografischer Puffer gegen die Sowjetunion benutzt und in die NATO integriert. Die UdSSR antwortete mit dem Warschauer Pakt.

      

Amerika als wirtschaftlich größte Macht des Planeten exportierte seine kulturellen Vorstellungen in alle Welt, von Coca-Cola bis Hollywood. Im zerstörten Europa (vor allem in Deutschland, das fast seine gesamte Intelligenz ins Exil oder in die Vernichtungslager getrieben hatte), stillte man damit ein Bedürfnis, füllte eine wirtschaftliche und kulturelle Leerstelle.

      

Auch auf dem technologischen Sektor dominierten die USA: »The postwar American technological lead had two conceptually distinct components. There was, first of all, the long standing strength in mass production industries that grew out of unique conditions of resource abundance and large market size. There was, second, a lead in ›high technology‹ industries that was new and stemmed from investment in higher education and in research and development, far surpassing the levels of other countries at that time.«9

      Da sich die USA selbst als Supermacht mit kultureller und technologischer Überlegenheit betrachteten, traf sie 1957 der »Sputnik-Schock« hart: Der Sowjetunion war es gelungen, einen Satelliten ins All zu schießen, und sie hatte damit den Wettlauf um die erste erfolgreiche Weltraum-Mission gewonnen. Der Sputnik-Schock markiert gleichzeitig den Eintritt in die Zweite Transformation der westlichen Gesellschaften. Während der nächsten 30 Jahre, bis zum Fall der Berliner Mauer 1989, erlebte die ökonomische Welt ihren zweiten wichtigen Wandel: von einer reinen Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, von der Maschine (machine) zum Geist (mind). Natürlich waren kluge Köpfe auch vor der Zweiten Transformation wichtig. Neu war das massenhafte Auftauchen neuer Berufszweige, die den direkten Kontakt Mensch zu Mensch erforderten. Es wurden immer mehr Arbeitsplätze für Büro-Angestellte, Service-Kräfte oder im Gesundheitsbereich geschaffen.

      Das war auch nötig, da in der reinen Produktion, dem Stammbereich der Industrialisierung, die Produktivität immer mehr zunahm und Arbeitskraft dort dramatisch verbilligte.

       Der Tertiäre Sektor entstand, weil sich Arbeitskraft verbilligte

      Die Arbeitsverlagerung und die Schaffung massenhafter Dienstleistungen nannte man den »Tertiären Sektor«. Betrug der Anteil der Beschäftigten in diesem Dritten Sektor 1960 (also kurz nach dem Sputnik-Schock) europaweit knapp über 40 Prozent, schnellte dieser Wert bis 1990 (kurz nach dem Mauerfall) auf über 60 Prozent hoch.10 Der Anteil von Dienstleistungen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt in Deutschland heute bei rund 70 Prozent – immerhin Platz 18 der weltweiten Rangliste. Spitzenreiter ist Hongkong mit einer Quote von 91 Prozent.11

      1974 schließlich, mitten in dieser Phase der wirtschaftlichen Umwälzung, formulierte der amerikanische Psychologe Herbert Freudenberger erstmals den Begriff »Burnout«. Bereits 2011 schrieb ich hierzu: »In der ersten wissenschaftlichen Publikation zum Thema, der Schrift ›Staff Burn-out‹ von Herbert Freudenberger, war Burnout als psychologisches Phänomen in seinen Grundzügen so gut wie vollendet. Freudenberger verwendet nur drei Fußnoten, in denen er ausschließlich eigene, frühere Werke zitiert. Fast könnte man meinen, Freudenberger habe das Thema ›Burnout‹ bewusst in einen eher gesellschaftlich-kulturellen Zusammenhang

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