Anne in Ingleside. Lucy Maud Montgomery

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Anne in Ingleside - Lucy Maud Montgomery Anne Shirley Romane

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      Lucy Maud Montgomery

      Anne in Ingleside

      Kapitel 1

      Wie hell der Mond heute abend scheint, dachte Anne Blythe, während sie durch den Garten zu Diana Wrights Haus hinaufmarschierte. Der salzige Wind wehte kleine Kirschblütenblätter von den Bäumen.

      Sie blieb einen Augenblick stehen und ließ ihren Blick über die Hügel und Wälder gleiten, die ihr Zuhause gewesen waren und an denen sie heute noch genauso hing wie damals. Ihr geliebtes Avonlea! Seit Jahren lebte sie nun schon in Glen St. Mary, aber Avonlea hatte etwas, was Glen St. Mary niemals haben würde. An jeder Ecke begegnete ihr etwas Vertrautes. Sogar die Felder, die sie früher durchstreift hatte, hießen sie willkommen. Sie fühlte sich zurückversetzt in die glücklichen Jahre ihrer Kindheit; wo sie auch hinschaute, mit allem verband sie eine liebe Erinnerung, und in so manchem geheimen Garten blüten die Rosen immer noch genauso wunderbar wie damals. Anne kam immer wieder gern in ihre alte Heimat, auch wenn es wie diesmal einen traurigen Anlaß für ihren Besuch gab. Eine Woche war sie nun schon hier, aber Marilla und Mrs. Lynde wollten sie einfach nicht so schnell wieder abfahren lassen. Ihr altes Dachzimmer stand jederzeit für sie offen, und als sie jetzt dort eintrat, hatte sie das Gefühl, von ihm regelrecht empfangen zu werden. Ihr Blick fiel auf ihr geliebtes altes Bett mit Mrs. Lyndes selbstgestrickter Apfelblätterdecke und den tadellosen Kissen mit den selbstgehäkelten Spitzen, auf Manilas selbstgeflochtene Läufer, auf den Spiegel, aus dem ihr damals, vor langer, langer Zeit, das Gesicht des kleinen Waisenkindes entgegengeblickt hatte, das damals in seiner ersten Nacht auf Green Gables so unglücklich gewesen war. Anne vergaß für einen Augenblick, daß sie mittlerweile glückliche Mutter von fünf Kindern war – jetzt war sie wieder die Anne von Green Gables. Als Mrs. Lynde eintrat, um frische Handtücher zu bringen, schaute Anne immer noch verträumt in den Spiegel.

      „Es ist so schön, daß du wieder zu Hause bist, Anne“, sagte Mrs. Lynde freundlich. „Neun Jahre ist es jetzt schon her, seit du weggezogen bist, aber Marilla und ich vermissen dich immer noch. Obwohl es nicht mehr ganz so einsam ist hier, seit Davy geheiratet hat. Millie ist so ein reizendes Ding! Aber es ist einfach nicht dasselbe, niemand ist so wie du!“ Sie legte den Stapel Wäsche neben den Waschtisch.

      „Schon, aber der Spiegel hier kann mir nichts vormachen, Mrs. Lynde. Er sagt mir klar und deutlich: Du bist nicht mehr so jung wie früher“, sagte Anne wehmütig.

      „Aber du hast dich gut gehalten“, gab Mrs. Lynde tröstend zurück. „Obwohl du nie besonders viel Farbe im Gesicht hattest.“

      „Na ja, Hauptsache, es ist noch kein Doppelkinn in Sicht“, freute sich Anne, „und Hauptsache, mein altes Zimmer erkennt mich wieder. Es wäre schrecklich für mich, wenn ich eines Tages feststellen müßte, daß es mich vergessen hat. Und es ist so wunderbar, den Mond über dem Geisterwald aufgehen zu sehen, so wie früher.“ Sie lehnte sich aus dem Fenster.

      „Ja, er sieht aus wie eine riesengroße Goldkugel“, stimmte Mrs. Lynde zu und hatte das ungute Gefühl, daß Anne mal wieder einen ihrer poetischen Anflüge bekam.

      „Sehen Sie doch bloß, wie scharf sich die Tannenspitzen gegen den Mond abzeichnen… und die Birken im Tal, wie sie ihre Arme emporheben. Wie groß sie geworden sind! Sie waren noch ganz winzig damals, als ich hierherkam.“

      „Ja, Bäume sind wie Kinder“, seufzte Mrs. Lynde. „Furchtbar, wie schnell die wachsen, sobald man sie aus den Augen läßt. Sieh dir bloß diesen Fred Wright an. Er ist mit seinen dreizehn Jahren fast schon so groß wie sein Vater. Übrigens gibt’s zum Essen warme Hühnchenpastete, und ich hab extra für dich Zitronenplätzchen gebacken. Und dein Bettzeug ist sogar doppelt und dreifach gelüftet! Erst hab ich es nämlich rausgehängt, dann Marilla, weil sie nicht wußte, daß ich es schon gemacht hatte, und schließlich Millie, die dachte, es hätte noch keiner getan.“ Mrs. Lynde schmunzelte. „Ich hoffe, Mary Maria Blythe kann morgen auf die Beerdigung gehen, wo sie doch so dafür schwärmt“, setzte sie nach einer Weile hinzu.

      „Tante Mary Maria – so nennt Gilbert sie immer, obwohl sie bloß die Kusine seines Vaters ist; mich nennt sie Annie“, bemerkte Anne schaudernd. „Und das erste, was sie nach meiner Hochzeit zu mir sagte, war: ‚Komisch, daß Gilbert ausgerechnet dich genommen hat, wo er so viele nette Mädchen hätte haben können.‘ Puh! Vielleicht hab ich sie aus diesem Grund nie leiden können; und ich weiß, daß Gilbert sie genausowenig mag, nur gibt er es nicht zu, weil sie mit ihm verwandt ist.“ Sie zog die Stirn kraus.

      „Bleibt Gilbert auch noch eine Weile?“ fragte Mrs. Lynde.

      „Nein, er fährt morgen schon zurück. Er muß nach einem Patienten sehen, dem es sehr schlechtgeht.“

      „Na ja, wahrscheinlich hält ihn auch nicht viel in Avonlea, seit seine Mutter letztes Jahr gestorben ist. Und der alte Mr. Blythe wollte wohl mit seinem Tod auch nicht länger warten. Wofür hätte er auch noch leben sollen. Das ist typisch für die Blythes, sie hängen sich viel zu sehr an irdische Dinge“, überlegte Mrs. Lynde. „Es ist schon traurig, daß es jetzt in Avonlea keinen mehr von ihrer Sippe gibt; die waren schon in Ordnung. Dafür gibt’s noch jede Menge Sloanes. Die Sloanes sind immer noch die alten, Anne, und werden es wohl auch bleiben, bis in alle Ewigkeit, Amen.“ Sie ging zur Tür.

      „Mir ist es ziemlich egal, wie viele Sloanes es noch gibt“, lachte Anne. „Ich werde jedenfalls nach dem Essen mit Diana einen Mondspaziergang durch den alten Obstgarten unternehmen und dann schlafen. Ich will morgen ganz früh wach sein und die Morgendämmerung über dem Geisterwald genießen – wenn der Himmel sich rötlich färbt und die Rotkehlchen singen.“

      „Aber die Kaninchen haben dieses Jahr die ganzen Lilien aufgefressen“, bemerkte Mrs. Lynde, während sie langsam die Treppe hinunterstieg und insgeheim den Kopf über Annes romantische Ader schüttelte. Anne war in der Beziehung immer schon sonderbar gewesen, und die Hoffnung, daß sich das jemals ändern würde, konnte man wohl begraben.

      Diana kam Anne schon auf dem Weg entgegen. Selbst im Mondschein konnte Anne erkennen, daß ihr Haar immer noch schwarz war und ihre Augen immer noch so strahlten wie früher. Es war allerdings auch nicht zu übersehen, daß sie zugenommen hatte, aber schließlich hatte sie noch nie als besonders mager gegolten. Beide begrüßten sich herzlich.

      „Keine Sorge, Diana, ich will nicht lange…“, begann Anne.

      „Nein, nein, das ist es nicht“, fiel Diana Anne ins Wort. „Du weißt genau, daß ich den Abend viel lieber mit dir verbringen würde, als zu diesem Empfang zu gehen. Ich hab dich bisher ja kaum gesehen, und übermorgen fährst du schon wieder ab. Aber Freds Bruder, weißt du … wir müssen einfach hin.“

      „Ja, ich weiß“, winkte Anne ab. „Ich komme ja auch nur auf einen Sprung vorbei. Ich hab unseren alten Weg genommen: durch den Geisterwald, an deinem alten, schattigen Garten entlang und weiter zum Nymphenteich. Da bin ich stehengeblieben und hab mir das Spiegelbild der Weiden verkehrt herum angesehen, genau wie früher. Wie die gewachsen sind inzwischen!“ Sie setzten sich auf eine Böschung am Wegesrand.

      „Ja, so wie alles andere“, seufzte Diana. „Ich brauche mir bloß den kleinen Fred anzusehen. Wir alle haben uns verändert, nur du nicht. Du änderst dich nie, Anne. Wie stellst du es bloß an, daß du so schlank bleibst? Schau mich an!“ Ärgerlich deutete sie auf ihren Bauch, und beide mußten lachen.

      „Na ja, ein bißchen mütterlich siehst du schon aus“, gab Anne scherzhaft zu. „Aber so dick wie die meisten anderen in unserem Alter bist du doch auch nicht. Und was mich angeht, da sind die Leute auch geteilter Meinung. Auf der Beerdigung sagte Mrs. Donnell zu mir, ich sähe nicht einen Tag älter aus als früher. Dagegen meinte Mrs. Andrews: ‚Du lieber Himmel, Anne, du hast aber nachgelassen!‘ Es ist eben Ansichtssache. Mir fällt erst dann auf, daß ich älter werde, wenn ich die Fotos in den Zeitschriften vor mir sehe. Aber komm, ist doch egal, Diana, morgen sind wir

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