Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt
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Wir sehen, Kant geht davon aus, dass der Mensch seinem intelligiblen Charakter nach, der ihn als Vernunftwesen ausweist, gut ist. Er ist also dort gut, wo er der Realität widersprechen und autonom werden kann, mit anderen Worten, die Fähigkeit besitzt, nicht nur unter Gesetzen, sondern auch aus Gesetzen zu handeln, was ja das Moralische hier ausmacht. Seinem sensiblen, seinem empirischen Charakter nach, wie er also tatsächlich ist, ist der Mensch jedoch böse. Diesen Zwiespalt zu lösen, den sensiblen und den intelligiblen Charakter zu vermitteln, ist ein treibendes Motiv in der Kantischen Philosophie. Das bedeutet, dass der Charakter, sofern er als empirisch gilt, entwickelt werden muss, wofür die Natur selbst Anlagen und Mittel liefert.
Ich möchte hier noch einmal an jene Stelle erinnern, an der Kant behauptet, die Französische Revolution sei, wie blutig und gewaltsam sie auch gewesen sein mag, und selbst wenn keiner sie wiederholen wolle, doch ein nicht zu tilgendes Geschichtszeichen gewesen. Er ist der Meinung, dass diese Entfaltung der Naturanlagen ein Produkt von Gewalt sei, wobei es verschiedene Formen von Gewalt gibt. In der »Anthropologie« nun ist die Gewalt merkwürdigerweise der Geburtshelfer dieser Naturanlagen. An sich entfaltet der Mensch gar nichts, doch er steht eben unter dem Druck von Konkurrenz und unter dem Zwang, Vernunft anzunehmen. Daher nimmt er im umgangssprachlichen Sinne Vernunft auch nur dann an, wenn es fast schon ausgeschlossen scheint. »Freiheit und Gesetz (durch welche jene eingeschränkt wird) sind die zwei Angeln, um welche sich die bürgerliche Gesetzgebung dreht.– Aber damit das letztere auch von Wirkung und nicht leere Anpreisung sei: so muß ein Mittleres hinzu kommen, nämlich Gewalt, welche, mit jenen verbunden, diesen Prinzipien Erfolg verschafft.«72
Es kann bei Kant keine Rede davon sein, dass er die Gewalt nicht sieht, und deshalb nimmt er ein bestimmtes Strukturprinzip der bürgerlichen Gesellschaft viel klarer zur Kenntnis als andere, die im liberalen Selbstverständnis die aufkommende bürgerliche Gesellschaft legitimieren. Gewalt ist hier kein Relikt der feudalen Gesellschaft, sondern unter den anthropologischen Voraussetzungen, wie Kant den Menschen begreift, die einzige Möglichkeit, Fortschritt herzustellen und Entwicklung voranzutreiben. Wie gesagt, nur an einem Punkt seines Werkes bricht die konservative, auf Bestehendes gerichtete Gewalt heraus und leuchtet als revolutionäre Gewalt auf. Aber diese Gewaltformen haben dieselbe Funktion. Die revolutionäre Gewalt verhilft einem Stück moralischer Anlage zum Durchbruch, und die anderen Formen der Gewalt sind überhaupt lebenserhaltend, damit die Menschen sich nicht totschlagen, damit man eben nicht, wie Thomas Hobbes (1588–1679) befürchtet hat, morgens aufsteht und totgeschlagen wird. Der Hobbes’sche Staat besteht darin, das zu verhindern, wenn auch nicht empirisch, so doch dem Prinzip nach, zumal ja die häufigsten Gewaltverbrechen im engsten Bekannten- und Verwandtenkreis passieren. Aber für dieses Ausschließen der Zerstörung des Menschen, der Gefährdung von Leib und Leben, ist Gewalt nötig und zwar eine zwingende, eine gesetzmäßig zwingende Gewalt. Zudem kombiniert Kant Gewalt mit verschiedenen Dingen: » – Nun kann man sich aber viererlei Kombinationen der letzteren mit den beiden ersteren denken: A. Gesetz und Freiheit ohne Gewalt (Anarchie). [Er klassifiziert das alles, Anm. Negt] B. Gesetz und Gewalt ohne Freiheit (Despotism). C. Gewalt ohne Freiheit und Gesetz (Barbarei). D. Gewalt mit Freiheit und Gesetz (Republik).«73
Zum Begriff der Gewalt bei Kant
Vorlesung vom 8. November 1974
Wie wir gesehen haben, führt Kant in seinem Werk »Anthropologie in pragmatischer Absicht« drei Naturanlagen des Menschen auf, die Potenzen, Potenziale, Fähigkeiten oder Möglichkeiten der Entwicklung bezeichnen, die sich aber für sich und isoliert auf das einzelne Individuum nicht entfalten können. Diese Anlagen sind vielmehr darauf angewiesen, durch gesellschaftliche Kräfte in den Prozess der Entwicklung einbezogen zu werden. Gleichwohl sind sie von Natur aus bei jedem Menschen vorhanden und insofern keine gesellschaftlichen Produkte. Diese Fähigkeiten und Anlagen sind Naturanlagen, wobei Kant eine technische, eine pragmatische und eine moralische unterscheidet. Im Folgenden wird es nun darum gehen, in welcher Weise diese Naturanlagen entwickelt werden können und entwickelt werden müssen.
Zuletzt hatte ich ein Schema eingeführt, in dem Kant die Gewalt auf verschiedene Weise mit Gesetz und Freiheit kombiniert und so Organisationsstufen der Gesellschaft beschreibt. Dieses Modell gilt es nun noch eingehender zu interpretieren. Zunächst sagt Kant, dass es eine Art »Maschinenwesen der Vorsehung« gebe, »wo die einander entgegenstrebende Kräfte zwar durch Reibung einander Abbruch tun, aber doch durch den Stoß oder Zug anderer Triebfedern lange Zeit im regelmäßigen Gange erhalten werden.«74 Er beschreibt mit dem Maschinenwesen nichts anderes als das, was in der bürgerlichen Gesellschaft passiert, nämlich dass einzelne Kräfte und Konstellationen mehr oder weniger zufällig aufeinandertreffen, aber das Ganze so etwas wie einen Zug, eine Stoßrichtung oder einen Durchschnitt ergibt und sich entsprechende Durchschnittsverhaltensweisen herausbilden. Nun ist das »Maschinenwesen der Vorsehung« eine sehr merkwürdige Bezeichnung, ist darin doch das theologische Element, das im Begriff der Vorsehung früher enthalten war, völlig zerstört. Vorsehung ist hier auf mechanische Vorgänge reduziert, auf Transformationen von mechanischer Energie in andere Energieformen. Es ist die Zusammenfassung der Gesellschaft als Maschine (nicht der Tiere als Maschine, wie es Descartes begriffen hat), als eines mechanischen Vorgangs, der mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit ausgestattet ist und einzelne Dinge vorantreibt. Kant sagt, dieses Maschinenwesen der Vorsehung erzeuge, was man als Entfaltung der Kräfte bezeichnen kann, und diese Entfaltung der Kräfte kombiniere in einer bestimmten Form Freiheit, Gewalt und Gesetz zur Voraussetzung.
Nehmen wir zunächst die erste Kombinationsmöglichkeit in besagtem Kantischen Schema. Da heißt es: »A. Gesetz und Freiheit ohne Gewalt (Anarchie).« Beim Begriff der Anarchie und der Anarchisten muss man besonders vorsichtig sein, weil jede Gesellschaft Anarchie anders definiert und sich jede Generation von Anarchisten von früheren unterscheidet. Der Begriff ›Anarchie‹ ist in dem Sinne ein soziologischer Grenz- und Ausgrenzungsbegriff, der immer das bezeichnet, was nicht zur etablierten Ordnung gehört. Er ist dort ein Restbegriff, wo er nicht ein positives Selbstverständnis beschreibt, und die ganze europäische Kulturgeschichte beruht darauf, Anarchie und Anarchismus negativ zu wenden. Warum also sagt Kant, Gesetz und Freiheit ohne Gewalt seien Anarchie, wo doch dem Anarchismus und der Anarchie üblicherweise gerade ein Gewaltmoment zugesprochen wird?
In den Debatten des Konvents hat Maximilien de Robespierre (1758–1794) den bestehenden Ordnungen und restaurativen Mächten den Vorwurf gemacht, sie verkörperten Anarchie und Despotismus, denn ihre Herrschaft beruhe nicht auf Gesetz und Freiheit. Wir finden also auch in den Konventsdebatten eine Umkehrung, das Zurückschleudern des Vorwurfs der Anarchie gegen etablierte Gewalten und Mächte. Hier ist Anarchie also nicht Herrschaftslosigkeit, die positive Auslegung von Anarchie, sondern sie ist Korruption und ein Durcheinander der Gesellschaft, ja Gesetzlosigkeit. Aber warum schlussfolgert nun Kant, Gesetz und Freiheit seien Anarchie, wenn die Gewalt fehlt?
Das Gesetz wirkt bei Kant typischerweise nicht aus sich selbst wie im naturrechtlichen Gesetzesbegriff, sondern als eine abstrakte und generelle Regel. Diese Regel erhält die Kraft zur Durchsetzung nicht durch sich selbst oder durch die Natur,