New Hope City. Severin Beyer
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© 2020 Begedia Verlag
© 2020 Severin Beyer
Covergestaltung — Atelier Tag Eins
Lektorat und Satz — Harald Giersche
e-Book-Bearbeitung — Harald Giersche
ISBN13 — 978-3-95777-142-1 (epub)
In Gedenken an meinen Vater Joe
(13.03.1959 – 26.03.2016)
New Hope: Ein Prolog
»Glauben Sie kein Wort von dem, was Sie hier lesen - denn dies ist meine Geschichte. Wie jeder Mensch neige ich dazu, Unangenehmes zu beschönigen, zu vergessen oder es sogar schlichtweg wegzulassen. Wissentlich wie unwissentlich. Glauben Sie mir weder die schlechten noch die guten Dinge, die ich Ihnen erzählen werde. Denn die Erinnerung verändert sich und neigt zur Übertreibung. Und egal, wie überzeugt ich von meiner Darstellung der Ereignisse auch scheinen mag, so kann es damals auch ganz anders gewesen sein. Ich sage Ihnen dies am Anfang dieses Buches, um Sie vor dem Fehler zu bewahren, die kommenden Seiten tatsächlich für wahr zu halten. Halten Sie nie das für wahr, was Menschen über sich selbst erzählen. Auch das nicht, was andere Menschen über diese Menschen berichten. Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen all dem Gesagten und dem Nichtgesagten. Nur so werden Sie vielleicht verstehen, wer ich einmal war.«
Ernst Stern, Biographie eines Jedermanns
*
Die Buchstaben der Biographie eines Jedermanns flimmerten über den Holobildschirm, doch nur das kleine Mädchen, das auf einem Sitz hinter Rien kniete, las gelangweilt mit. Rien grinste. Aus seinem rechten Mundwinkel tropfte Sabber. Niemand in der schwülen Hitze der Metropolbahn bemerkte seinen starren Blick, sein Grinsen oder seinen Speichel, der an seinem Mundwinkel herabrann. Nur das Mädchen hinter ihm fragte sich, wann der Loser vor ihr denn endlich zur nächsten Seite switchen würde.
Das was seine Standardprozedur, wenn er unterwegs und voll drauf war: Er versteckte sich hinter dem Hologramm-Bildschirm, den der kaum daumengroße Smartpod erzeugte, den er wie einen Ring an einer Kette um seinen Hals trug. Momentan waren die Buchstaben vor ihm das Einzige, das ihn noch an die andere Realität band.
›Fuck‹, mehr konnte er nicht denken, brauchte es aber auch nicht, da dieses Wort allein vollkommen ausreichte. Es war ja schon widerlich, dass die gute alte Dreidimensionalität flöten gegangen war, aber das nun auch noch die verbliebenen Reste des Raum-Zeit-Kontinuums vollkommen erodierten, machte ihn einfach nur fertig.
›Fuck‹, er hätte nicht beide Pillen auf einmal einwerfen dürfen, eine Black Light allein hätte vollkommen ausgereicht. Diese Dröhnung … Aber er war zu gierig gewesen, zu ausgehungert, als er die zwei silbern schimmernden Tabletten im Chaos seiner alten Wohnung gefunden hatte. Er hatte schon die kalten Nadelstiche gespürt, die ihn zurück in die andere Realität zogen. Oh Gott, was hatte er nur getan … Er durfte überhaupt nicht daran denken, was gerade mit seinem Körper geschah. Hoffentlich hatte er sich nicht eingeschissen, dort, wo auch immer er sich im Moment befinden mochte. War er noch in der Metropolbahn? Doch er vergaß die Frage, noch ehe er sie zu Ende gedacht hatte, da die Buchstaben der Biographie eines Jedermanns vor ihm zerflossen und ihm auf die Hose tropften. Kleine schwarze Punkte, die sich auf ihm ausbreiteten und mit der verwaschen braunen Farbe der Sitzbezüge verschmolzen, die früher wahrscheinlich einmal Burgunderrot gewesen war.
›Shit!‹ Er variierte gedanklich seinen Fluch, was in seinem aktuellen Zustand bereits eine beachtliche geistige Eigenleistung darstellte ›Ich werde eins mit Mutter Natur!‹ Das konnte er überhaupt nicht brauchen, wenn er auf einem Trip mit seiner Umwelt verschmolz. Er musste hier raus, zur Not seinen Körper verlassen, seinen Geist aufgeben, musste unbedingt an der nächsten Haltestelle aussteigen, musste sich dringend bewegen. Bewegung rettete vor der Übermacht einer der beiden Realitäten, Bewegung stellte das Gleichgewicht zwischen Ekstase und Schrecken her. So wie es eben sein sollte, wenn er voll auf Droge war.
›Bewegen!?‹ Unschlüssig darüber, ob das überhaupt möglich war, versuchte Rien seine Beine aus dem Sitz der Bahn der Linie U2 13 zu lösen. Panisch starrte er seine beiden Oberschenkel an, die wie in Beton gegossen an den verwaschen braunen Sitzen der Bahn festklebten.
Rien fokussierte seinen Geist auf seine Beine. ›Bewegt euch schon‹, schoss es ihm durch den Kopf. Er kam sich vor wie ein Psioniker aus einer Science Fiction-Geschichte, der Objekte mittels Telekinese im Raum verschob. Dabei verwackelten die bisher noch nicht zerflossenen Buchstabenreste vor seinem Gesicht vollends und spritzten in alle Richtungen: Die zerfließenden Farbtupfen verteilten sich in der gesamten Metropolbahn. Dort, wo sie aufprallten, breiteten sie sich aus wie eine bösartige Infektion. In einem singulären Augenblick einer lichten Eingebung fasste sich der Junkie an den Hals und erfühlte, nein, erahnte seine Halskette, an der er sich bis zu seinem Smartpod vortastete. Panisch schaltete er seinen mobilen Computer auf schon fast vorsintflutliche Weise direkt am Gehäuse aus. Seine Zunge war zu gelähmt für Sprachbefehle.
Die Buchstaben verschwanden und gaben den Blick auf die Umgebung frei. Das brachte Rien aber nicht viel, da Umgebung minus Raum-Zeit-Kontinuum gleich ein riesiges verschwommenes Etwas bedeutete. Ein weiteres Mal versuchte er seine Beine aus dem Sitz zu lösen, sie aus dem zähen, gummiartigen Untergrund herauszubekommen, der sie umklammert hielt. Er fasste nach einem Haltegriff, um sich hochziehen. Ein Hoffnungsschimmer glitt durch seinen verschwommenen Verstand. Das durfte er nicht vermasseln, schließlich hatte er nur diesen einen Versuch: Wenn es ihm jetzt nicht gelang, sich zu befreien, dann würde die Bahn ihn sich einverleiben, dann würde er ewig Teil der Linie U2 13 bleiben, dazu verdammt, bis zum Jüngsten Gericht auf den Schienen der Undercity herumzufahren. Rien mobilisierte alle seine Kräfte, um sich aufzurichten. Wenigstens die Zeit bis zu seiner endgültigen Verdammnis wollte er mit den anderen Toten ruhig unter der Erde verbringen, bis es an ihm war, gerufen und abgeurteilt zu werden.
Er hatte es geschafft, er stand. Die epischen Klänge von Also sprach Zarathustra von Richard Strauss erklangen, wie in solchen Situationen üblich. Er, Rien, war den Fängen der Metropolbahn entronnen!
Doch dann kam sie mit aller Wucht, die Wirkung der Black Light, die erbarmungslos in seinen soeben wieder reaktivierten Kreislauf einschlug, sich in seinen Körper und Verstand einhämmerte. Es war, als ob sein gesamter Organismus in seiner Existenz reduziert würde. Zuerst fühlte er nur noch seinen Herzschlag, fühlte ihn ausschließlich, als ob sein gesamter Körper nur noch aus diesem regelmäßigen, wuchtigen Pulsieren bestünde. Dann kamen die Knochen zurück, dicht gefolgt von den Muskeln, den Sehnen, den Nerven, gefolgt von den inneren Organen und zuletzt der Haut. Er spürte seine Existenz, spürte sie so schmerzlich-brutal, als ob er gerade eben erst zur Welt gekommen wäre. Das Farbenspektrum der anderen Realität kehrte grell verzerrt in einen extremen Kontrast aus Licht und Dunkelheit zurück. Der den Geist einlullenden Farbenmischmasch, der jenseits des Raum-Zeit-Kontinuums bestanden hatte, wurde in einem Fanal vernichtet, in einem vereinten Triumph von Rationalität und Sinneswahrnehmung.
Rien sah, dass alles gut war. Er befand sich in der Metropolbahn und hatte noch zwei Stationen vor sich, ehe er an seinem Ziel ankam. Die Lichter der unterirdischen Tunnelbeleuchtung blitzten am Fenster der vorbeifahrenden Bahn auf und verschwanden wieder genauso schnell. Niemand schien von seinem Trip Notiz genommen zu haben, nur ein kleines Mädchen mit grässlich pinkfarbener Jacke starrte ihn an. Das Pink der Jacke störte ihn mehr als das Mädchen, aber er wusste, dass der grässliche Farbeffekt durch die Nachwirkung der Black Light hervorgerufen wurde. In einer Vorahnung strich er sich den Sabber aus dem Mundwinkel, rückte seine Sonnenbrille zurecht und bewegte sich unauffällig Richtung Ausgang. Er würde eine Station früher aussteigen, denn jetzt, da die Black Light so wirkte, wie sie sollte, war es einfach nur geil, sich zu bewegen, den eigenen Körper zu spüren, die bloße