Dien Bien Phu. Harry Thürk
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Harry Thürk
Dien Bien Phu
Roman
mitteldeutscher verlag
Vorher …
Nach Jahrhunderten, die erfüllt waren von Stammesfehden und feudalen Auseinandersetzungen, hatte Vietnams Kaiser Gia Long es zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschafft, das von der südchinesischen Grenze bis zum Delta des Mekong reichende Land mit einem funktionierenden Staatsapparat zu versehen. Wirtschaft, Handel und Handwerk entwickelten sich, und die aus vielen Nationalitäten bestehende Völkerfamilie des Landes formierte sich zu einer Nation.
Frankreich erkannte den ökonomischen und strategischen Wert von Besitzungen in dem aufblühenden indochinesischen Land sehr bald. Es nahm die angebliche Gefährdung von dort arbeitenden christlichen Missionaren zum Vorwand, um im Herbst 1858 Teile seiner Kriegsflotte vor Da Nang auffahren zu lassen und die Übergabe der Hafenstadt zu erzwingen. Das war der Startschuß für eine in den nächsten fünfundzwanzig Jahren – Schritt für Schritt mit Schwert, Betrug, Erpressung, Täuschung und Bestechung durchgeführte Kolonialisierung ganz Vietnams.
Später wurden noch Laos und Kambodscha (Kampuchea) unterworfen, und von da an flossen Milliardeneinkünfte nach Frankreich, obgleich es in der einträglichen Kolonie niemals ruhig wurde: Bauernaufstände, Erhebungen nationaler Minderheiten, Demonstrationen und Arbeiterrevolten rissen nicht ab.
Überhaupt war es die sich im neuen, dem 20. Jahrhundert zur gesellschaftlichen Kraft formierende Arbeiterbewegung, die schließlich die voneinander unabhängig um Freiheit und Gerechtigkeit kämpfenden Kräfte im Lande vereinigte und damit größere Erfolge möglich machte. Ho Chi Minh, ein junger Patriot aus Zentralvietnam, der um diese Zeit in Frankreich arbeitete, begründete dort 1922 die »Liga der Völker der französischen Kolonien«. Französischen Kommunisten war er damals schon ein Bruder im gemeinsamen Kampf. 1930, nach den ersten großen Streikkämpfen illegaler indochinesischer Gewerkschaften, entstand folgerichtig die Kommunistische Partei Indochinas, die am Vorabend des zweiten Weltkrieges, 1937, den Zusammenschluß aller antifaschistischen, patriotischen und antikolonialistischen Kräfte der Nation zu einer gemeinsamen Front begann.
»Viet-nam doc lap dong minh« hieß die große Organisation, »Liga für den Kampf um die Unabhängigkeit Vietnams«. Sie erstarkte schnell im Widerstand gegen die japanischen Okkupanten, die mit den in der Kolonie verbliebenen französischen Militärkräften ein Stillhalteabkommen hatten, das von den hitlerfreundlichen Vichy-Kollaborateuren inspiriert war.
So blieben die Partisanen der Unabhängigkeitsliga, »Vietminh« abgekürzt, die einzigen ernsthaften Gegner der Japaner in Vietnam während des zweiten Weltkrieges. Kurz vor dem Zusammenbruch und der Kapitulation Japans waren im Norden Vietnams bereits sechs Provinzen völlig befreit, und diese Zone »Viet-Bac« wurde das Zentrum des bewaffneten Aufstands, der nun im ganzen Land losbrach.
Im August 1945 kapitulierte Japan. Die »Vietminh« schlugen überall gleichzeitig los. Sie entwaffneten die noch im Lande befindlichen Japaner und siegten binnen weniger Tage. Am 2. September bereits proklamierte Ho Chi Minh in Hanoi die Unabhängigkeit Vietnams.
An der ersten Provisorischen Regierung der Demokratischen Republik Vietnam, die sofort ein Programm des Aufbaus und der Reformen in die Wege leitete, waren Vertreter aller nationalen Gruppierungen beteiligt. Es schien so, als hätte die vietnamesische Bevölkerung endlich, nach fast hundert Jahren, Freiheit und Eigenstaatlichkeit errungen.
Frankreich jedoch gab seine mündig gewordene Kolonie nicht frei. Noch im September 1945 landeten zusammen mit britischen »Ordnungstruppen« die ersten französischen Soldaten in Saigon. Ein französisches Expeditionskorps unter General Leclerc folgte. Der Angriff auf die Volksmacht begann. Aber er traf auf stärkeren, bewaffneten Widerstand, als die Franzosen erwartet hatten.
Überall in der Welt, vor allem aber in Frankreich selbst, stieß das Vorgehen gegen Vietnam auf eindeutige Ablehnung. 1946 sah sich daher die französische Regierung genötigt, mit der Demokratischen Republik Vietnam zu verhandeln, die im Handstreich nicht auszulöschen gewesen war. Ho Chi Minh reiste nach Paris.
Im März 1946 anerkannte die französische Regierung in einem Abkommen, dessen Detailfragen 1947 geregelt werden sollten, grundsätzlich Vietnam als »freien Staat mit eigener Regierung, eigenem Parlament, eigenen Streitkräften und Finanzen«. Allerdings hatte sie dabei vorerst nur den Norden und die Mitte des Landes im Auge. Der Süden sollte später durch eine Volksabstimmung über seine Zugehörigkeit zur DRV entscheiden. Dennoch – Frankreich akzeptierte, Vietnam bis April 1951 völlig zu räumen.
Für die DRV war das Abkommen (auch als »modus vivendi« bezeichnet), nicht voll zufriedenstellend. Aber Ho Chi Minh unterzeichnete es trotzdem. Er wollte Franzosen wie Vietnamesen einen vielleicht jahrelangen, verlustreichen Kolonialkrieg ersparen.
Seine Friedensbereitschaft wurde nicht belohnt. Während in Hanoi eine Kommission der DRV-Nationalversammlung am Entwurf der ersten Verfassung arbeitete, provozierte die französische Flotte in Haiphong schwerwiegende Auseinandersetzungen. Einige tausend vietnamesische Opfer waren zu beklagen. Und Frankreichs Kommandeure erhielten aus Paris den Befehl, die Situation auszunutzen und mit jedem nur verfügbaren Mittel die Regierung der DRV zu entmachten. Der nächste Akt war ein französischer Angriff auf den Sitz des Präsidenten Ho Chi Minh, und danach die Aufforderung an die Streitkräfte der DRV, die Waffen niederzulegen.
Damit begann der französische Kolonialkrieg gegen den neuen Staat. Er sollte siebeneinhalb Jahre dauern. Dann war Frankreichs Expeditionskorps strategisch am Ende. Nur die Generale und die hinter ihnen verborgenen Interessengruppen aus Wirtschaft und Politik, für die Indochina unverzichtbar schien, wollten das Handtuch nicht werfen. Sie schickten Henri Navarre als neuen Chef des Expeditionskorps nach Vietnam. Er sollte die noch junge, in vieler Hinsicht schlecht ausgerüstete Volksarmee der DRV in eine sogenannte offene Feldschlacht locken, in der die Franzosen letztlich doch noch den Sieg zu erringen hofften.
General Navarre, mit dessen Dienstantritt in Vietnam dieses Buch beginnt, wählte als Platz für die Entscheidungsschlacht Dien Bien Phu aus. Er wußte genau, daß er die Entscheidung dort in sehr kurzer Zeit erringen mußte: Für den Frühling 1954 war von den Außenministern der westlichen Großmächte auf Drängen der Sowjetunion Genf als der Ort vereinbart worden, an dem eine internationale Konferenz den Indochinakrieg beenden sollte …
Ho Chi Minh
Jahrgang 1890, die herausragende Persönlichkeit der vietnamesischen Revolution, wuchs in einer Familie auf, in der die Gedanken an Freiheit und Unabhängigkeit stets wach gewesen waren. Günstige Umstände erlaubten es ihm, sich Schulbildung zu erwerben, und der wißbegierige Nguyen Van Thanh, wie er eigentlich hieß, übte später sogar den Beruf eines Lehrers in einer Schule aus, die von einer Fabrik in Huê unterhalten wurde.
Bald erkannte der junge Revolutionär jedoch, daß er zuwenig von der Welt wußte, um der Befreiungsbewegung im Vaterland eigene Impulse zu geben, und weil es ihn dazu drängte, heuerte er kurzerhand als Hilfskoch auf einem französischen Dampfer an: ein erster Schritt zur entscheidenden Erweiterung seines Horizontes.
Er wechselte, um die Spur zu verwischen, seinen Namen, und er sah nicht nur Frankreich, sondern auch Spanien, Portugal, England, die afrikanischen Länder am Mittelmeer und Irland.
Während des ersten Weltkrieges arbeitete (als Fotograf) und studierte er in Frankreich, später in den USA. Bei Kriegsende, eng verbunden mit der Sozialistischen Partei Frankreichs, übergab er der Versailler Konferenz eine Denkschrift über sein unterdrücktes Volk.
Seine