Lucinde. Friedrich Schlegel
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Friedrich Schlegel
Lucinde
Saga
LucindeCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1799, 2020 Friedrich Schlegel und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726544343
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
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PROLOG
Mit lächelnder Rührung überschaut und eröffnet Petrarca die Sammlung seiner ewigen Romanzen. Höflich und schmeichelnd redet der kluge Boccaz am Eingang und am Schluß seines reichen Buches zu allen Damen. Und selbst der hohe Cervantes, auch als Greis und in der Agonie noch freundlich und voll von zartem Witz, bekleidet das bunte Schauspiel der lebensvollen Werke mit dem kostbaren Teppich einer Vorrede, die selbst schon ein schönes romantisches Gemälde ist.
Hebt eine herrliche Pflanze aus dem fruchtbaren mütterlichen Boden, und es wird sich manches liebevoll daran hängen, was nur einem Kargen überflüssig scheinen kann.
Aber was soll mein Geist seinem Sohne geben, der gleich ihm so arm an Poesie ist als reich an Liebe?
Nur ein Wort, ein Bild zum Abschiede: Nicht der königliche Adler allein darf das Gekrächz der Raben verachten; auch der Schwan ist stolz, und nimmt es nicht wahr. Ihn kümmert nichts, als daß der Glanz seiner weißen Fittiche rein bleibe. Er sinnt nur darauf, sich an den Schoß der Leda zu schmiegen, ohne ihn zu verletzen; und alles, was sterblich ist an ihm, in Gesänge auszuhauehen.
JULIUS AN LUCINDE
Die Menschen und was sie wollen und tun, erschienen mir, wenn ich mich daran erinnerte, wie aschgraue Figuren ohne Bewegung: aber in der heiligen Einsamkeit um mich her war alles Licht und Farbe, und ein frischer warmer Hauch von Leben und Liebe wehte mich an und rauschte und regte sich in allen Zweigen des üppigen Hains. Ich schaute, und ich genoß alles zugleich, das kräftige Grün, die weiße Blüte und die goldene Frucht. Und so sah ich auch mit dem Auge meines Geistes die Eine ewig und einzig Geliebte in vielen Gestalten, bald als kindliches Mädchen, bald als Frau in der vollen Blüte und Energie der Liebe und der Weiblichkeit, und dann als würdige Mutter mit dem ernsten Knaben im Arm. Ich atmete Frühling, klar sah ich die ewige Jugend um mich und lächelnd sagte ich: Wenn die Welt auch eben nicht die beste oder die nützlichste sein mag, so weiß ich doch, sie ist die schönste. In diesem Gefühle oder Gedanken hätte mich auch nichts stören können, weder allgemeine Zweifel noch eigne Furcht. Denn ich glaubte einen tiefen Blick in das Verborgene der Natur zu tun; ich fühlte, daß alles ewig lebe, und daß der Tod auch freundlich sei und nur eine Täuschung. Doch dachte ich daran eigentlich nicht sehr, wenigstens zum Gliedern und Zergliedern der Begriffe war ich nicht sonderlich gestimmt. Aber gern und tief verlor ich mich in alle die Vermischungen und Verschlingungen von Freude und Schmerz, aus denen die Würze des Lebens und die Blüte der Empfindung hervorgeht, die geistige Wollust wie die sinnliche Seligkeit. Ein feines Feuer strömte durch meine Adern; was ich träumte, war nicht etwa bloß ein Kuß, die Umschließung deiner Arme, es war nicht bloß der Wunsch, den quälenden Stachel der Sehnsucht zu brechen und die süße Glut in Hingebung zu kühlen, nicht nach deinen Lippen allein sehnte ich mich, oder nach deinen Augen, oder nach deinem Leibe: sondern es war eine romantische Verwirrung von allen diesen Dingen, ein wundersames Gemisch von den verschiedensten Erinnerungen und Sehnsuchten. Alle Mysterien des weiblichen und des männlichen Mutwillens schienen mich zu umschweben, als mich Einsamen plötzlich deine wahre Gegenwart und der Schimmer der blühenden Freude auf deinem Gesichte vollends entzündete. Witz und Entzücken begannen nun ihren Wechsel und waren der gemeinsame Puls unseres vereinten Lebens; wir umarmten uns mit ebensoviel Ausgelassenheit als Religion. Ich bat sehr, du möchtest dich doch einmal der Wut ganz hingeben, und ich flehte dich an, du möchtest unersättlich sein. Dennoch lauschte ich mit kühler Besonnenheit auf jeden leisen Zug der Freude, damit mir auch nicht einer entschlüpfe und eine Lücke in der Harmonie bleibe. Ich genoß nicht bloß, sondern ich fühlte und genoß auch den Genuß.
Du bist so außerordentlich klug, liebste Lucinde, daß du wahrscheinlich schon längst auf die Vermutung geraten bist, dies alles sei nur ein schöner Traum. So ist es leider auch, und ich würde untröstlich darüber sein, wenn ich nicht hoffen dürfte, daß wir wenigstens einen Teil davon nächstens realisieren könnten. Das Wahre an der Sache ist, daß ich vorhin am Fenster stand; wie lange, das weiß ich nicht recht: denn mit den andern Regeln der Vernunft und der Sittlichkeit ist auch die Zeitrechnung dabei ganz von mir vergessen worden. Also ich stand am Fenster und sah ins Freie; der Morgen verdient allerdings schön genannt zu werden, die Luft ist still und warm genug, auch ist das Grün hier vor mir ganz frisch, und wie sich die weite Ebene bald hebt, bald senket, so windet sich der ruhige, breite silberhelle Strom in großen Schwängen und Bogen, bis er und die Phantasie des Liebenden, die sich gleich dem Schwane auf ihm wiegte, in die Ferne hinziehen und sich in das Unermeßliche langsam verlieren. Den Hain und sein südliches Kolorit verdankt meine Vision wahrscheinlich dem großen Blumenhaufen hier neben mir, unter denen sich eine beträchtliche Anzahl von Orangen befindet. Alles übrige läßt sich leicht aus der Psychologie erklären. Es war Illusion, liebe Freundin, alles Illusion, außer daß ich vorhin am Fenster stand und nichts tat, und daß ich jetzt hier sitze und etwas tue, was auch nur wenig mehr oder wohl gar noch etwas weniger als nichts tun ist.
*
So weit war an dich geschrieben, was ich mit mir gesprochen hatte, als mich mitten in meinen zarten Gedanken und sinnreichen Gefühlen über den eben so wunderbaren als verwickelten dramatischen Zusammenhang unsrer Umarmungen ein ungebildeter und ungefälliger Zufall unterbrach, da ich eben im Begriff war, die genaue und gediegene Historie unsers Leichtsinns und meiner Schwerfälligkeit in klaren und wahren Perioden vor dir aufzurollen, die von Stufe zu Stufe allmählich nach natürlichen Gesetzen fortschreitende Aufklärung unsrer den verborgenen Mittelpunkt des feinsten Daseins angreifenden Mißverständnisse zu entwickeln, und die mannigfachen Produkte meiner Ungeschicklichkeit darzustellen, nebst den Lehrjahren meiner Männlichkeit, welche ich im ganzen und in ihren Teilen nie überschauen kann, ohne vieles Lächeln, einige Wehmut und hinlängliche Selbstzufriedenheit. Doch will ich als ein gebildeter Liebhaber und Schriftsteller versuchen, den rohen Zufall zu bilden und ihn zum Zwecke gestalten. Für mich und für diese Schrift, für meine Liebe zu ihr und für ihre Bildung in sich, ist aber kein Zweck zweckmäßiger als der, daß ich gleich anfangs das, was wir Ordnung nennen, vernichte, weit von ihr entferne und mir das Recht einer reizenden Verwirrung deutlich zueigne und durch die Tat behaupte. Dies ist um so nötiger, da der Stoff, den unser Leben und Lieben meinem Geiste und meiner Feder gibt, so unaufhaltsam progressiv und so unbiegsam systematisch ist. Wäre es nun auch die Form, so würde dieser in seiner Art einzige Brief dadurch eine unerträgliche Einheit und Einerleiheit erhalten, und nicht mehr können, was er doch will und soll: das schönste Chaos von erhabnen Harmonien und interessanten Genüssen nachbilden und ergänzen. Ich gebrauche also mein unbezweifeltes Verwirrungsrecht und setze oder stelle hier ganz an die unrechte Stelle eines von den vielen zerstreuten Blättern, die ich aus Sehnsucht und Ungeduld, wenn ich dich nicht fand, wo ich dich am gewissesten zu finden hoffte, in deinem Zimmer, auf unserm Sofa, mit der zuletzt von dir gebrauchten Feder, mit den ersten den besten Worten, so jene mir eingegeben, anfüllte oder verdarb, und die du Gute, ohne daß ich es wußte, sorgsam bewahrtest.
Die Auswahl wird mir nicht schwer. Denn da unter den Träumereien, die hier