Tübinger Fieberwahn. Maria Stich
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Читать онлайн книгу Tübinger Fieberwahn - Maria Stich страница 6
Wilde steckte das Kettenschloss durch die Speichen des Vorderrades, schlang den Rest um einen Laternenpfosten und ließ das Schloss einrasten. Er hob den Kopf und sah, dass sich die Autokolonne auf der Brücke in Bewegung setzte.
Skeptisch beobachtete Wotan Wilde die dunkle Wolkenfront, die vom Neckar herüberzog. Der Wind hatte aufgefrischt und im nächsten Augenblick setzte unvermittelt ein heftiger Hagelschauer ein.
Wilde tastete suchend nach der Kapuze an seiner roten Outdoorjacke. Er fühlte nur die Druckknöpfe am Kragen. Die Kapuze steckte abgezippt und trocken in seinem Rucksack. Und der war in irgendeinem Umzugskarton verpackt. Klasse! Eine Erkältung passte jetzt nicht in seinen Zeitplan.
Wilde zog den Kopf ein und den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kinn. Vergeblich, ein Schwung der kalten Eiskörnchen war schon in seinem Kragen gelandet und ließ ihn erschauern.
»Merde!«, fluchte er halblaut vor sich hin. Die Hagelkörner prasselten gegen seine nackten Knie. Als durchtrainierter Sportler trug er natürlich kurze Radlerhosen. Heute hatte er sich für Kniestrümpfe entschieden. Socken trug er sonst nur beruflich in den braunen Budapestern, den geflochtenen Halbschuhen.
»Herr Wilde, Sie können das Rad im Keller abstellen!«, hörte er jemanden hinter sich sagen. Ein kräftiger Mann in dunkelgrünem Overall stand vor der Haustür. Er hatte eine schwarze Wollmütze mit dem weißen Aufdruck »Shietwetter« tief ins Gesicht gezogen. Neben seinen klobigen Arbeitsschuhen stand ein Plastikeimer, aus dem mehrere Rollen Müllbeutel ragten. Das runde Gesicht war von Sommersprossen übersät, was dem Mann einen kindlichen Ausdruck verlieh. Wilde sprintete über den Fußweg zum Hauseingang.
In diesem Augenblick hörte der Hagelschauer schlagartig auf und zaghafte Sonnenstrahlen blinzelten aus den grauen Wolken. Er versuchte in den paar Sekunden, sich an den Namen dieses freundlichen Zeitgenossen zu erinnern. Er bildete sich viel auf sein Personengedächtnis ein.
Gesichter konnte er sich merken wie kein anderer in seinem Team. Aber bei Namen, da musste er sich Eselsbrücken bauen.
Das ging manchmal nach hinten los, wenn er den als Waldvogel abgespeicherten Herrn Adler Herr Sperling nannte und den als gekröntes Haupt Herrn König als Herr Kaiser ansprach.
Diese partielle Gedächtnisschwäche hatte er von seinem Vater Tristan Wilde geerbt. Der konnte damit umgehen, hatte er doch als Strafverteidiger stets die Akten mit den Namen der Prozessbeteiligten vor sich liegen.
Der Vorname Wotan war auf seinem Mist gewachsen. Seine Mutter wollte ihn Franz nennen. Sie war nicht wie ihr Mann der Wagnerschen Musik verfallen und bevorzugte eher die Komponisten Mozart und Lehár.
Der Spitzname »Wilder Wotan« war im Gymnasium entstanden und hielt sich hartnäckig über die Jahre hinweg. Ursache war die Sage und das Bild von Friedrich Wilhelm Heine »Wotans wilde Jagd«, das sie im Deutschunterricht bei Frau Professor Doktor Schönhaas lesen und interpretieren mussten.
Auch im Kommissariat wurde er hinter seinem Rücken so genannt. Das wusste er, seitdem er zufällig seine Assistentin Bernadette von Hohenstein und Oberkommissar Robert Altmann in der Kantine belauscht hatte. Wie der Name seinen Weg vom Gymnasium ins Kommissariat gefunden hatte, würde er auch noch einmal ermitteln. Das hatte er sich spaßeshalber vorgenommen.
»Den ›Wilden Wotan‹ sollten wir heute nicht ansprechen, der ist mit dem linken Fuß aufgestanden«, teilte Bernadette damals dem dicken Robert, dem Senior bei der Mordermittlung, am Salatbuffet mit. Der brummte wissend und lud sich eine Extraportion Kartoffelsalat auf den Teller. Wilde verfolgte den Gedanken nicht weiter. Er musste sich jetzt auf den Umzug und die neuen Mitbewohner konzentrieren.
Er wusste sicher, dass der Mann im Overall der Hausmeister und Ansprechpartner für kleinere Reparaturen war. Der war schon vor einem Monat im 3. Stock unter ihm eingezogen. Seine Frau, eine resolute Rothaarige, und die zwei halbwüchsigen Kinder hatte er schon einige Male im Treppenhaus getroffen.
Seine grauen Zellen ließen ihn auch diesmal im Stich.
So beschloss er, das Gespräch ohne persönliche Anrede zu beginnen und sich dann auf seine Erfahrung als Ermittler zu verlassen.
»Vielen Dank für den Hinweis! In den Keller stelle ich es später«, keuchte er. »Ich muss später noch mal los, die Pizzas bei ›Da Giovanni‹ abholen. Für die Umzugsleute, die von der Firma ›Federleicht‹.« Wenigstens hatte er den Namen des Umzugsunternehmens noch parat.
»Die Firma kenn ich, den Panagiotis und den Aristos Treggelidis, gutes Team. Da haben Sie sich aber heute schlechtes Wetter ausgesucht. Die Eisheiligen sind in diesem Jahr sehr pünktlich. Mamertus, Pankratius, Servatius, Bonifatius und die kalte Sophie machen ihrem Ruf alle Ehre«, sagte der Mann, ohne einmal zu stocken. Wilde erblasste innerlich vor Neid über so viel Gedächtnisleistung.
»Wenn Sie was brauchen, ich bin rund ums Haus beschäftigt. Ich geb Ihnen meine Karte, falls was sein sollte.« Er griff in seine Gesäßtasche und nahm aus dem Geldbeutel eine grüngestreifte Visitenkarte. Wie ein Ertrinkender griff Wilde nach dem Kärtchen.
»Holger Kostka, Gartenbautechnik«, las er laut. Darunter standen Telefonnummer und E-Mail-Adresse.
»An einer Webseite arbeitet meine Frau noch«, ergänzte Holger Kostka stolz.
»Na dann, Herr Kostka«, antwortete Wotan Wilde schnell, »vielen Dank und frohes Schaffen.«
»Ebenso!«, entgegnete der Gartenbautechniker, tippte an einen imaginären Hutrand und verschwand mit seinem Eimer im Flur.
Wotan zögerte einen Augenblick, war aber dann zu träge, um die Visitenkarte sorgfältig im Geldbeutel zu verstauen. Er öffnete nur den Reißverschluss der Seitentasche seiner Jacke und ließ sie neben sein Smartphone und den Schlüsselbund gleiten.
»Wie soll ich mir nur diesen Namen merken?« Wilde fiel beim besten Willen keine Eselsbrücke dazu ein.
Der Umzugswagen beanspruchte jetzt seine Hauptaufmerksamkeit. Gerade bog er in die noch unbefestigte Straße am Alten Güterbahnhof ein und rumpelte durch die Pfützen.
»Kiri, Kiri, komm her!«, rief eine schrille Stimme im Treppenhaus. Ein braun-weiß gefleckter Hund galoppierte an Wilde vorbei. Er hielt auf den Laternenpfahl zu, hob sein Beinchen und pinkelte in hohem Strahl gegen den Pfahl. Der Hinterreifen von Wotans Rad bekam auch eine Dusche ab.
Der Hund, ein Jack Russell-Mischling, scharrte mit beiden Hinterbeinen, wie es sich für einen anständigen Köter gehörte. Er drehte sich um und stolzierte gelangweilt den Gehweg entlang.
Dann entdeckte er Wotan Wilde und seine bestrumpften Waden. Freudig mit dem Schwanz wedelnd, lief er auf ihn zu und begann, an seinen Beinen zu schnüffeln. Wilde zuckte vor der kalten Schnauze zurück.
»Aus, Kiri! Hierher, Kiri!« Eine hochgewachsene junge Frau in rotgepunkteter Regenjacke und ebensolchen Gummistiefeln trat aus der Tür. Sie hielt eine Leine in der Hand und schob mit der anderen die Träger eines Rucksacks auf den Rücken.
»Kiri liebt Männer im Radlerdress«, wandte sie sich entschuldigend an Wilde.
»Sein früheres Herrchen war Rennradfahrer, aber dann … das Herz … Wir haben Kiri aus dem Tierheim geholt«, erklärte sie. Wilde nickte und wischte sich den Sabber vom Knie. Eigentlich interessierte ihn das gar nicht.
»Tütüt!«,