Setze deinen Fokus!. Michael Hyatt
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In meiner Verzweiflung machte ich einen Termin bei einem der Top-Kardiologen in meiner Heimatstadt Nashville. Er unterzog mich einer Reihe von Tests und rief mich, sobald die Ergebnisse vorlagen, in sein Büro. „Michael, Ihr Herz ist in Ordnung“, sagte er. „Tatsächlich sind Sie in bester Verfassung. Ihr Problem besteht in zwei Dingen: Sodbrennen … und Stress.“ Er sagte, dass ein Drittel der Menschen, die mit Brustschmerzen zu ihm kamen, unter Sodbrennen litten, und den meisten davon stand der Stress bis zum Hals. „Um den Stress sollten Sie sich kümmern“, warnte er mich. „Wenn Sie ihm nicht Priorität einräumen, werden Sie bald wieder hier auftauchen– dann mit einem echten Herzproblem.“
Ich war genau wie die überarbeiteten, überlasteten Menschen, von denen er mir erzählte. Solange ich mich zurückerinnern konnte, hatte ich ein verrücktes Pensum. Und die Arbeit schien nie weniger zu werden. Damals leitete ich in meiner Firma eine Abteilung und versuchte, eine fast unmögliche Wende herbeizuführen (mehr dazu später). Ich hatte mehr Prioritäten, als ich zählen konnte, und wurde in hundert verschiedene Richtungen gezogen. Ich stand im Zentrum eines jeden Prozesses. Ich erhielt jeden Telefonanruf, jede E-Mail, jede Textnachricht. Ich war rund um die Uhr im Dienst, in einem unaufhörlichen Wirbel von Projekten, Besprechungen und Aufgaben– ganz zu schweigen von Notfällen, Unterbrechungen und Ablenkungen. Meine Familie war überstrapaziert, meine Energie und mein Enthusiasmus ließen nach und jetzt litt auch noch meine Gesundheit. Irgendetwas musste geschehen.
Unser Leben in der Ablenkungsökonomie
Mein Problem bestand damals darin, dass ich zu viel tat– und das meiste davon im Alleingang. Später erkannte ich, dass sich auf alles zu fokussieren in Wirklichkeit bedeutet, dass man gar keinen Fokus hat. Es ist fast unmöglich, irgendetwas von Bedeutung zu erreichen, wenn man durch eine endlose Litanei von Aufgaben und Notfällen rennt. Und doch verbringen viele von uns genauso ihre Tage, Wochen, Monate und Jahre– manchmal sogar ihr ganzes Leben.
Eigentlich sollten wir es inzwischen besser wissen. Seit Jahrzehnten leben und handeln wir in einer sogenannten Informationsökonomie. In den Jahren 1969 und 1970 sponserten die Johns Hopkins University und die Brookings Institution eine Reihe von Konferenzen über die Auswirkungen der Informationstechnologie. Einer der Redner, Herbert Simon, war ein Professor für Informatik und Psychologie an der Carnegie Mellon University. Später erhielt er für seine wirtschaftswissenschaftliche Arbeit den Nobelpreis. In seinem Vortrag warnte er davor, dass das Wachstum der Informationen zu einer Belastung werden könnte. Warum? „Informationen verbrauchen die Aufmerksamkeit ihrer Empfänger“, erklärte er, und „eine Fülle von Informationen schafft ein Aufmerksamkeitsdefizit.“1
Informationen sind nicht länger ein knappes Gut. Nun ist es Aufmerksamkeit. Tatsächlich wird in einer Welt, in der Informationen frei verfügbar sind, Aufmerksamkeit zu einer der wertvollsten Ressourcen der Arbeitswelt. Doch für die meisten von uns ist die Arbeit gerade der Ort, an dem sie am wenigsten zu finden ist. In Wahrheit leben und arbeiten wir in einer Ablenkungsökonomie. Wie der Journalist Oliver Burkeman sagt: „Ihre Aufmerksamkeit wird den ganzen Tag über von Spam-Mails überschwemmt.“2 Den ständigen Fluss von Inputs und Unterbrechungen einzudämmen, kann uns tatsächlich wie ein Ding der Unmöglichkeit erscheinen.
Denken Sie zum Beispiel an E-Mails. Insgesamt werden pro Minute über 200 Millionen E-Mails verschickt.3 Einige von uns beginnen ihren Arbeitstag mit einigen hundert ungelesenen Mails, während gerade hunderte weitere auf dem Weg sind.4 Doch damit nicht genug. Nehmen Sie dazu all die Daten-Feeds, Telefonanrufe, Texte, Drop-in-Besuche, Sofortnachrichten, pausenlose Meetings und unvorhergesehene Probleme, von denen unsere Telefone, Computer, Tablets und unsere Arbeitsplätze überschwemmt werden. Untersuchungen zeigen, dass wir im Durchschnitt alle drei Minuten unterbrochen oder abgelenkt werden.5 „Obwohl die digitale Technologie zu erheblichen Produktivitätssteigerungen geführt hat“, meint Rachel Emma Silverman vom Wall Street Journal, „scheint der moderne Arbeitsalltag wie geschaffen dafür, den individuellen Fokus zu zerstören.“6
Wir alle haben das schon erlebt. Unsere Geräte, Apps und Tools lassen uns glauben, dass wir Zeit sparen und hyperproduktiv sind. In Wirklichkeit vertrödeln die meisten von uns den Tag damit, Aktivitäten mit wenig Wert nachzugehen. Wir investieren unsere Zeit nicht in große und wichtige Projekte. Stattdessen werden wir von winzigen Aufgaben tyrannisiert. Zwei Arbeitsprozess-Berater stellten fest, dass „etwa die Hälfte der Arbeit, die Menschen leisten, nicht dazu beiträgt, dass die Organisationen, für die sie arbeiten, ihre Ziele erreichen.“ Mit anderen Worten: Die Hälfte allen Aufwands und aller investierten Stunden bringen dem Unternehmen gar nichts im Gegenzug für all die Hektik. Sie nennen das „Scheinarbeit“7. Wir tun mehr und gewinnen weniger, was eine große Lücke zwischen dem entstehen lässt, was wir erreichen wollen, und dem, was wir tatsächlich erreichen.
Die Kosten der Verschwendung
Die Kosten all dieser vergeudeten Zeit und falsch eingesetzten Talente sind schwindelerregend. Je nach Studie beträgt der Zeitverlust pro Tag für Büroangestellte drei Stunden oder mehr – bis zu sechs Stunden.8 Nehmen wir an, Sie arbeiten 250 Tage im Jahr (365 Tage abzüglich Wochenenden und zwei Wochen Urlaub). Das wären dann 750 bis 1.500 Stunden Ausfallzeit pro Jahr. Der Schaden für die US-Wirtschaft beläuft sich damit auf bis zu eine Billion US-Dollar.9 Aber das ist zu abstrakt.
Denken Sie stattdessen an all die ins Stocken geratenen Initiativen, die verschobenen Projekte und das nicht realisierte Potenzial – insbesondere an Ihre eigenen ins Stocken geratenen Initiativen, verschobenen Projekte und Ihr eigenes nicht realisiertes Potenzial. Ich habe im Laufe der Jahre Tausende von vielbeschäftigten Führungskräften und Unternehmern beraten. Und das bekomme ich von meinen Klienten am häufigsten zu hören: Der Geldwert der Produktivitätsverluste ist zwar bedeutsam, aber er ist nicht das, was wirklich wehtut. Es sind all die Träume, die ungelebt bleiben, die Talente, die vertrocknen, und die Ziele, die nicht verfolgt werden.
Zwischen den Projekten, die wir verwirklichen wollen, und der Flut anderer Aktivitäten – einigen, die tatsächlich wichtig sind, und anderen, die es nur zu sein scheinen – fühlen wir uns erschöpft, desorientiert und überfordert. Laut Gallup beklagt sich etwa die Hälfte von uns darüber, dass wir nicht genug Zeit haben, um das zu tun, was wir tun wollen. Bei den 35- bis 54-Jährigen oder bei Menschen mit Kindern unter 18 Jahren liegt die Zahl höher – bei mehr als 60 Prozent.10 In ähnlicher Weise gaben sechs von zehn von der American Psychological Association befragten Personen im Jahr 2017 an, dass sie bei der Arbeit gestresst seien, und fast vier von zehn sagten, dies sei nicht das Ergebnis eines einmaligen Projekts, sondern eine Konstante in ihrem Arbeitsleben.11 Stress hat auch positive Aspekte. Dass wir unter permanenter Anspannung stehen und das, was uns wichtig ist, nicht mehr umsetzen können, gehört sicher nicht dazu.
Die einzige Möglichkeit, diese Kosten aufzufangen, scheint darin zu bestehen, dass wir zulassen, dass die Arbeit Besitz von unseren Nächten ergreift und in unsere Wochenenden vordringt. So ergab eine Studie des Center for Creative Leadership, dass sich Berufstätige mit Smartphones – und das sind inzwischen so gut wie alle von uns – mehr als 70 Stunden mit ihrer Arbeit beschäftigen.12 Laut einer vom Softwareunternehmen Adobe in Auftrag gegebenen Studie verbringen US-Arbeitnehmer jeden Tag mehr als sechs Stunden damit, E-Mails abzurufen. Um Zeit für den Rest des Arbeitstages zu gewinnen, checken 80 Prozent ihre E-Mails, bevor sie ins Büro gehen,