Midrasch. Gerhard Langer
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|55|Eliezer ist hier mehr als ein konservativer Eigenbrötler, als der er gelegentlich in den rabbinischen Schriften erscheint, er stellt den Typus des Propheten dar, der durch Zeichen und Wunder seine eigene Autorität unter Beweis stellt. Seine Kollegen repräsentieren die andere Seite der Offenbarungsvermittlung – durch im Lehrhaus ermittelte Mehrheitsentscheidung. Die Wunder können eintreffen, selbst Gott kann auf Seiten des Propheten sein, sein Anspruch auf Offenbarungsvermittlung ist mit der Gabe der Tora am Sinai praktisch verwirkt. Auch der große Prophet Elija, ein häufiger Gast in rabbinischen Erzählungen, kann nur die lächelnde Zustimmung Gottes zur „Machtübernahme“ durch die Rabbinen bekunden.
Neben der Prophetie bieten die mystischen Spekulationen alternative Möglichkeiten, Offenbarung „hautnah“ zu erleben. Auch hierauf reagieren die Rabbinen mehr als nur vorsichtig. Auf der einen Seite stehen sie ihnen sehr skeptisch gegenüber, auf der anderen Seite vereinnahmen sie den richtigen Umgang mit der MystikMystik für sich. So werden die Spekulationen um die himmlischen Thronhallen (Hechalot) und den Thronwagen (Merkava) zu geheimnisumwitterten Lehren, die man versucht, rabbinisch zu kontrollieren. In WaR 16.4 heißt es:
Ben Azzai saß und legte aus (haja joschev we-doresch) und Feuer entflammte rund um ihn. [(Seine Schüler) gingen und sagten zu R. Aqiva: Ben Azzai sitzt und legt aus und Feuer ist rund um ihn entflammt.] Er ging zu ihm und sagte: Beschäftigst du dich mit den Geheimnissen der Merkava (Thronwagenmystik)? Er antwortete ihm: „Nein! Vielmehr verknüpfe ich die Worte der Tora mit den Propheten und die Worte der Propheten mit den Schriften, und die Worte der Tora jubeln wie am Tag(, als sie) vom Sinai (gegeben wurden) – und ist es nicht wesenhaft, dass sie, als sie vom Sinai gegeben wurden, durch Feuer gegeben wurden?, wie es heißt: „Und der Berg brannte im Feuer bis zum Herzen des Himmels“ (Dtn 4,11).
Das Feuer der Offenbarung vom Sinai kommt hier betont – obwohl so „befürchtet“ – nicht durch die mystische Spekulation auf den Schüler, sondern nachdem er – modern formuliert – intertextuelle Exegese betrieben hat. Damit markieren die Rabbinen ihr Territorium. Denn Wissen bedeutet Macht. Die Weitergabe der richtigen Lehre und der besonderen Gotteserkenntnis ist daher auch ein exklusives Gut, das man in der Gruppe zu halten versucht. In BerR 3.4 mit Parallelen in WaR 31.7 oder MidTeh 104.4 beantwortet R. Schmuel b. Nachman eine Anfrage des Schimon b. R. Jechozadaq, woher das Licht erschaffen wurde, als Haggadalehrer mit Flüstern:
Er hat gesagt: Der Heilige, gepriesen sei er, hat sich darin eingehüllt wie in einen Mantel, und der Glanz der Hoheit strahlte von einem Ende der Welt bis zum anderen Ende. Er hat zu ihm mit Flüstern (lechischa) gesprochen. |56|Daraufhin hat ihm (Schimon) geantwortet: Ein voller Schriftvers ist es: „Du hüllst dich in Licht wie in ein Kleid“ etc. (Ps 104,2) – und du sprichst mit Flüstern? Er antwortete ihm: Wie ich es mit Flüstern gehört habe, so sage ich es dir mit Flüstern.
Das Flüstern ist Teil des Geheimnisses, der besonderen Vorsicht um seine Weitergabe. Auch wenn die Botschaft nichts anderes vermittelt als etwas, das jeder aus der Bibel erfahren könnte, enthält es durch die spezifische Situation der Weitergabe im Kontext der rabbinischen Haggadagruppe eine besondere Bedeutung.
Der innerste Kreis der Offenbarungsvermittler sind die Gelehrten. Zu ihren Schülern gehören, also Den Weisen dienenden Weisen dienen, ist die größte Ehre, die Ansehen und Freude über den Tod hinaus garantiert. SER 7.17 (Friedmann 37) formuliert es so:
Hat jemand (Bibel) gelesen und nicht Mischna studiert, steht er noch draußen. Hat einer Mischna studiert, aber nicht (Bibel) gelesen, steht er noch draußen. Hat jemand (Bibel) gelesen und Mischna studiert und nicht den Weisen gedient, gleicht er einem, vor dem [die Worte] der Tora verborgen sind, da es heißt: „Nach meiner Umkehr fühle ich Reue“ (Jer 31,19). Doch hat jemand Tora, Propheten und Schriften gelesen und Mischna, Midrasch und Halachot und Aggadot studiert und den Weisen gedient, der mag dafür sogar sterben oder getötet werden, so ist er doch in Freude auf ewig. Daher heißt es: „Daher lieben sie dich auf ewig“ (Hld 1,3). (Übersetzung Stemberger, Schaff dir einen Lehrer. In: JM II, S. 369)
5. „Textzentrierte“ und „angewandte“ Auslegung und eine Hermeneutik der Anknüpfungen
Eine logische Schlussfolgerung des bisher Gesagten ist, dass im biblischen Text entdeckte Fragen beantwortet werden sollen, Unklarheiten aufgeklärt, Spannungen gelöst. Dazu verwenden die Rabbinen die hermeneutischen Regeln, stellen intertextuelle Bezüge zu anderen – aus unterschiedlichsten Gründen vergleichbaren – Bibelstellen her, benützen Gleichnisse oder Beispielerzählungen etc. Gerade die so genannten gaps, also die Leerstellen und offenen Fragen innerhalb des Textes ermöglichen es zudem, wichtige Botschaften zu transportieren, die in der Form der Auslegung des Bibeltextes erscheinen, über bloße „Exegese“ aber weit hinausgehen. Isaak Heinemanns in Bezug auf die Haggada geprägte Begriffe der „schöpferischen Philologie“ bzw. der „schöpferischen Geschichtsschreibung“ (Darche ha-Aggada) haben hier ihre tiefe Berechtigung. „Schöpferisch“ trifft insofern zu, als es sich bei den Auslegungen der Rabbinen tatsächlich um Kreationen von Zusammenhängen mit dem Ziel handelt, diese für die eigene Lebenswelt anwendbar zu machen.
|57|Eine Unterscheidung zwischen „reiner“ und „angewandter“ ExegeseUnterscheidung zwischen „reiner“ und „angewandter“ Exegese, wie sie etwa Geza Vermes (Bible and Midrash) vorschlägt, hat mit Einschränkungen Berechtigung. Er verwendet den Begriff „reine Exegese“ („pure exegesis“) in Bezug auf jene Texte, die ihren Anknüpfungspunkt in einem Problem im Text haben, während „angewandte Exegese“ („applied exegesis“) dann zu verwenden sei, wenn der Ausgangspunkt der Argumentation außerhalb des Textes liegt, wenn also der Text durch eine Thematik oder einen Aspekt angereichert wird, der aus der Welt der Ausleger stammt. Es ist fraglich, ob eine solche strikte Trennung möglich ist, da beide Aspekte sich verbinden. Man entdeckt schließlich jene Probleme im Text, die in der eigenen Welt von Bedeutung sind, und lässt sich umgekehrt von der Textwelt selbst massiv beeinflussen. Die Welt der Ausleger und die Welt der Bibel stehen in einem beständigen Dialog. Dennoch ergibt es Sinn, im Rahmen der Analyse von rabbinischen Midraschtexten mit aller Vorsicht die Unterscheidung zwischen einer stark textbezogenen und einer von textexternen Fragen dominierten Auslegung zu treffen und dabei die Übergänge, Grauzonen und Zwischentöne zu beachten. Auf diese Weise kann eruiert werden, welche Werthaltungen, Vorstellungen, auch Ideologien sich