Midrasch. Gerhard Langer
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Dieses pragmatische Argument hat einiges für sich und wurde z.B. 2006 vom „international research project for the study of the Rewritten Bible“ übernommen. Erkki Koskenniemi und Pekka Lindqvist halten im ersten Band der akademischen Reihe Studies in Rewritten BibleStudies in Rewritten Bible fest,
dass das Wort Midrasch für frühe jüdische Exegese verwendet oder besser auf rabbinische Exegese beschränkt werden soll, dabei z.B. der kompakten Definition von Lieve Teugels folgend. (S. 18)
Die Goldbergschülerin Rivka UlmerRivka Ulmer hat 2006 in einem Beitrag mit dem Titel The Boundaries of the Rabbinic Genre Midrash ebenfalls jegliche Verwendung des Begriffes Midrasch außerhalb des rabbinischen Kontextes abgelehnt. Midraschim seien „nachbiblisch und auf den biblischen Text […] bezogen, bedienen sich typischerweise namentlich genannter Ausleger (der Rabbinen) und spezifischer Auslegungsregeln (der Middot)“ (Boundaries, S. 63). Ulmer sieht Midrasch vor allem als Ausdruck der rabbinischen Theologie und weniger als exegetische Methode. Midrasch als „literarisches Genre“ ist für sie durch die soziale Gruppe, die es schafft, definiert. Mittelalterlicher „Midrasch“ sei durch eine Schwächung der Form gekennzeichnet. Ulmer betont die Voraussetzungen des Midrasch. Die Gegenwart der Rabbinen bestimmt den Kontext der Schrift, |15|auch wenn die Bedeutung der Schrift noch viele weitere Möglichkeiten beinhalten mag.
Teugels oder Ulmers Definition von Midrasch ist klar und eng umrissen: Da er durch die Hermeneutik und die Theologie der Rabbinen bestimmt ist, kann es keine außerrabbinischen Midraschim geben.
Gegenüber einem Verständnis von Midrasch als literarischem (rabbinischem) Genre wurde in verschiedenen Ansätzen dieser stärker als Eine Methode des Textzugangeseine Methode des Textzuganges begriffen. Deutlich haben dies Avigdor Shinan und Yair Zakovitch so zu beschreiben versucht:
Midrasch ist eine Methode des Textzugangs – abgeleitet aus einer religiösen Weltsicht und durch verschiedene Erfordernisse motiviert (historische, moralische, literarische etc.) –, die es ermöglicht und ermutigt, viele und sogar sich widersprechende Bedeutungen im Text zu entdecken, während die Intention des Autors oder der Autoren sich als schwer fassbar erweist. (Midrash, S. 258)
In diesem Zusammenhang sind die 1983 in der Zeitschrift Prooftexts erstmals erschienenen Two Introductions to MidrashTwo Introductions to Midrash von James KugelJames Kugel zu nennen. Er versteht Midrasch als „ein interpretatives Verfahren, einen Weg, einen heiligen Text zu lesen“ (Two Introductions, S. 91). Damit definiert er Midrasch als eine Hermeneutik, die er sowohl in den Targumim, dem qumranischen Genesis Apokryphon als auch dem mittelalterlichen Sefer ha-Jaschar wiederfindet, in Predigten, Gebeten und Gedichten, und natürlich im rabbinischen Midrasch, in Mischna und Gemara, „denn im Grunde ist Midrasch nichts Geringeres als der Grundstein des rabbinischen Judentums, und dabei so divers wie die rabbinische Kreativität selbst“ (S. 92). Kugel erkennt selbst, dass die weite Deutung von Midrasch als „Recherche, welche die Schrift interpretiert und in allen Arten von Kontexten Ausdruck findet“ (S. 92), zu breit angelegt ist, und widmet sich danach dem konkreten Vorgehen. Dazu gehöre die Erklärung von Problemen in den biblischen Versen, genauer in einzelnen Worten des biblischen Verses, etwas, das später Boyarin mit dem „filling of gaps“ bezeichnen wird. Nach Kugel ist Midrasch am Vers, nicht an größeren biblischen Einheiten orientiert, wobei der Kontext der Auslegung die ganze Schrift, der Kanon, ist, „eine Situation vergleichbar bestimmten politischen Organisationen, in denen es keine eigenen Staaten, Provinzen oder ähnliches gibt, sondern nur das Dorf und das Königreich“ (S. 93). Diese Interpretationen einzelner Verse seien unabhängig von größeren Einheiten zirkuliert, ähnlich wie moderne Witze, „und wie Witze wurden sie überliefert, modifiziert und verbessert, als sie […] durch das Lernen mit dem Bibeltext selbst überliefert wurden“ (S. 95).
|16|Daniel BoyarinDaniel Boyarins 1990 erschienene Studie Intertextuality and the Reading of MidrashIntertextuality and the Reading of Midrash greift Kugels Analyse positiv auf und ist deutlich von der Literaturtheorie der Zeit und ihren Proponenten wie Roland Barthes, Julia Kristeva oder Mikhail Bakhtin bzw. von der Intertextualitätskonzeption von Michael Riffaterre beeinflusst. Im Zentrum steht die Schrift als ein Dokument, das auf vielfältige Weise (polyvalent) ausgelegt werden kann und ausgelegt wurde. Im ersten Kapitel mit dem Titel Toward a New Theory of Midrash kritisiert Boyarin Heinemanns Ansatz der kreativen Geschichtsschreibung und will Midrasch
zuallererst als Lesen verstehen, als Hermeneutik, als in der Interaktion der rabbinischen Leser mit einem heterogenen und schwierigen Text begründet, der für sie sowohl normativ als auch göttlichen Ursprungs war. (Intertextuality, S. 5)
Boyarin richtet sich hier gegen eine Position der Auslegung von Midrasch, die dessen hermeneutisches Grundanliegen zuallererst und vorrangig als Reaktion auf zeitgenössische Probleme und Zustände versteht.
Auch Jacob NeusnerJacob Neusner, der in seinen zahlreichen Publikationen immer wieder auch die Bedeutung des Midrasch thematisiert (Funktion, Struktur, Theologie etc.), was in diesem Buch nur ansatzhaft aufgezeigt und ihm damit auch nur in Teilen gerecht werden kann, neigt in seiner Deutung zu einem Verständnis, wonach Midrasch „einem Zweck dient, der nicht durch die Schrift, sondern durch den Glauben bestimmt ist, der sich in Entwicklung befindet und dabei ist, sich zu artikulieren“ (Midrash: An Introduction, S. xi). Für den Midrasch forme die Schrift ein „dictionary“, das zahlreiche Möglichkeiten der Auslegung biete oder eine Reihe von Farben, die für ein Gemälde zur Verfügung stehen.
Nach Boyarin ist Midrasch demgegenüber in erster Linie einmal als „Lesen eines Textes“ ernst zu nehmen, was er näher als „Interaktion der rabbinischen Leser mit einem heterogenen und schwierigen Text“ bestimmt. Midrasch setzt die literarische Aktivität als Reflexivität und Interpretation, die innerhalb der Bibel beginnt, fort und vergegenwärtigt die biblische Vergangenheit. Die Texte reflektieren also die historischen Entstehungsbedingungen einerseits, wie sie andererseits auch auf diese selbst zurückwirken. Zentrales Stichwort der Midraschanalyse Boyarins ist hier „Intertextualität“„Intertextualität“, deren Kennzeichen, ganz im Kontext postmoderner Literaturtheorie, von der bewussten und unbewussten Zitation vorhandener Texte und Diskurse bestimmt ist. Biblische Texte, und um sie geht es ja im Midrasch, werden aufeinander bezogen, stehen im beständigen Dialog. Die Rabbinen haben die Welt durch die Brille |17|der Bibel betrachtet, genauer gesagt durch „ihre ideologisch gefärbte Brille“ (Intertextuality, S. 15), denn kulturelle Codes bestimmen, bewusst oder unbewusst, die Erzeugung wie das Verstehen von Texten. Die intertextuelle Lesepraxis der Rabbinen baut auf innerbiblischer Lesepraxis auf. Der Bereich der Interpretation ist der biblische Kanon, in dessen Licht eine einzelne Stelle interpretiert wird. Daher ist Midrasch im Grunde „radikales intertextuelles Lesen des Kanons“ (S. 16), wobei die sich beim Lesen ergebenden Fragen, die so genannten gaps, eine zentrale Rolle spielen, welche nun gefüllt werden. Im Prinzip kann Midrasch daher als intertextuelles – also textlich dialogisches – Erklären von Unklarheiten, Lücken, offenen FragenErklären von Unklarheiten, Lücken, offenen Fragen, also der gaps verstanden werden.
Es wird etwas später noch zu zeigen sein, dass schon innerbiblisch eine große schöpferische Freiheit bestand, vorhandenes Traditionsgut weiterzuentwickeln und neuen Bedingungen anzupassen. Und es wird gezeigt werden, dass die rabbinischen Midraschim sehr wohl ein Gespür für die (Lösung der) im Bibeltext inhärenten Problemstellungen hatten. In den halachischen Midraschim (dazu mehr unter