Philosophie der Wissenschaft. Georg Römpp
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Man versteht die neuzeitliche Naturwissenschaft in ihrem Wissensanspruch nicht ausreichend, wenn man sich nicht verdeutlicht, welchen Bruch das Aufkommen der wissenschaftlichen Denkweise in Bezug auf die Beendigung des Regresses darstellte, der aus der Begründungspflichtigkeit des Wissens entsteht, die ein Bestandteil der Bedeutung darstellt, die wir mit dem Begriff ‚Wissen‘ verbinden. Man könnte geradezu sagen, dass die Wissenschaft mit einer neuen Auffassung darüber begann, wie sich jener Regress verhindern lasse. Jeder weiß, wie diese neue Auffassung lautete: es kommt auf die Erfahrung an – genauer: auf die Erfahrung durch die Sinne, weshalb man auch von empirischer bzw. Erfahrungswissenschaft spricht, wenn man die neuzeitliche Methode der Wissenschaft bezeichnen will. Durch das Zeugnis unserer Sinneswahrnehmungen können wir nach dieser Auffassung auf etwas ‚Gegebenes‘ kommen, das der Frage ein Ende bereitet, ob die Begründung für ein Wissen denn selbst ein Wissen darstelle, das selbst begründet werde müsste mithilfe von Wissen, woraus die gleiche Frage wieder entstehen würde.
Man macht es sich in vielen Büchern über diesen Umbruch in den Auffassungen über unser Wissen im Entstehungsprozess der Naturwissenschaft zu leicht, wenn man auf neue Erkenntnisse verweist, die durch die Erfindung von Messinstrumenten möglich wurden; und man macht es sich auch zu leicht, wenn man darauf verweist, dass die Ausrichtung des Wissens an den Erfahrungen unserer Sinne sich so leicht durchsetzen konnte, weil sie erheblich erfolgreicher war als die alte Orientierung an einem geglaubten Buchwissen. Man könnte diese Veränderungen plausibler so beschreiben: Weil man nun bereit war, in unserem Wissen über die Welt den Regress der Begründung nicht mehr durch heilige Bücher, sondern in erster Linie durch das Zeugnis der Sinneserfahrung zu beenden, deshalb wurden Messinstrumente erfunden, die uns eine Sinneserfahrung auch dort ermöglichen, wo die Sinne, die uns mit unserer anatomischen und organischen Ausstattung zur Verfügung stehen, nicht mehr ausreichen können. Warum hätte man sich sonst die Mühe machen sollen, solche Instrumente zu erfinden, wenn die Sinneserfahrung doch sowieso nicht als Beendigung des Regresses der Begründung akzeptabel war?
Auch mit dem Argument, dass die Sinneserfahrung als letzte Begründungsgrundlage für unser Wissen deshalb den Siegeszug antreten konnte, weil sie weit erfolgreicher war als die ältere Orientierung an einigen mehr oder weniger heiligen Schriften und an rein vernünftigen Erörterungen ohne jeden Bezug zur Erfahrung, geraten wir in Schwierigkeiten. Dagegen lässt sich etwa einwenden, dass die Erfolge des neuen Denkens zunächst auf Spezialprobleme beschränkt waren, die winzig kleine Wissenschaftlergemeinden beschäftigten. Wenn wir heute an die Erfolge der Wissenschaft denken, dann kommt uns in der Regel der Fortschritt der Medizin in den Sinn und darüber hinaus die technische Anwendbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse von der Mondlandung über die Erfindung von CD- und DVD-Playern bis hin zur Entwicklung von Nuklearwaffen. Diese Anwendungen sind aber eine Erscheinung erst aus der jüngsten Geschichte, und selbst die medizinische Verwertbarkeit der Wissenschaft begann eigentlich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Erfolge zu zeigen. Vor der Entdeckung von Antibiotika, Anästhetika und den Erkenntnissen der Virologie und Bakteriologie hatten Ärzte nicht viel mehr Möglichkeiten zur Heilung von Krankheiten als in den vorangegangenen Jahrhunderten.
Es könnte deshalb plausibler sein, die Veränderungen in der Auffassung des Wissens und seiner Begründbarkeit weg von einem Buchwissen hin zum Erfahrungswissen nicht durch den besseren Erfolg des letzteren zu erklären, sondern durch eine neue Definition von Erfolg, die mit der neuen Orientierung des Wissens an der Sinneserfahrung untrennbar verbunden war. Das alte Wissen wies sich im Grunde überhaupt nicht dadurch aus, dass es Erfolge in der Veränderung und Verbesserung der Welt des Menschen ermöglichte. Es fand seine Beglaubigung vielmehr schon darin, dass es sich auf den Willen Gottes, wie er in als heilig angesehenen Büchern niedergeschrieben war, und auf rein vernunftgegründete Argumentationen stützte, wie sie von den scholastischen Philosophen und Theologen auf der Grundlage des aristotelischen Denkens ausgearbeitet worden waren. Ein Erfolg des Wissens in unserem Sinne war in dieser Konzeption des Wissens überhaupt nicht vorgesehen, sondern ein solcher Erfolg wurde durch Kriterien bestimmt, die im Denken der Wissenschaft heute überhaupt nicht mehr vorkommen.
1.3Wissen und wissenschaftliches Erklären
Die Wissenschaft beendet den Regress des Begründens, indem sie ihr Wissen durch seinen Bezug auf die Erfahrung ausweist, weshalb neuzeitliche Wissenschaft gleichbedeutend ist mit empirischer Wissenschaft. Diese Minimaldefinition von Wissenschaft im Sinne von ‚science‘ wird heute nur an dem Rand der Wissenschaft nicht als selbstverständlich angesehen, wo die sog. ‚string theory‘ sich in der theoretischen Physik berechtigt sieht, ein kosmologisches Modell zu entwerfen, dessen Aussagen prinzipiell keine empirische Bestätigung oder Widerlegung zulassen. Eine solche ‚nicht-empirische‘ Wissenschaft wird überall sonst als ein Begriff angesehen, der dem eines ‚schwarzen Schimmels‘ gleicht. Möglicherweise ist der Hinweis nicht überflüssig, dass dies natürlich auch für die Quantenphysik und die Relativitätstheorie gilt. Die erfahrungsgeleitete Wissenschaft begründet ihr Wissen ‚letztlich‘ durch den Kontakt unserer Sinne mit der Welt, also durch Wahrnehmung. Ihre Grundlage ist die Annahme, dass unsere fünf Sinne in der Wahrnehmung eine solche Beziehung zur Welt aufnehmen, dass wir eine Grundlage für solche Aussagen und Aussagensysteme über sie finden, die der Definition von ‚Wissen‘ genügen.
Wir haben zu Beginn dieses Kapitels einen einfachen Begriff von ‚Wissenschaft‘ als ‚science‘ skizziert, der auf weite Akzeptanz Anspruch erheben kann, um diesen Begriff dann mit Blick auf die Philosophie der Wissenschaft durch denjenigen des ‚Wissens‘ zu erläutern und im ‚Begründen‘ zentrieren zu lassen. Auf dieser Grundlage können wir das Problem, das sich einer Wissenschaftsphilosophie stellt, nun dadurch erläutern, dass wir das Begründen in den Zusammenhang des Begriffs des Wissens zurückstellen. Dazu müssen wir einige Beziehungen zwischen dem ‚Begründetsein‘, dem ‚Für-wahr-halten‘ (Glauben) und dem ‚Wahrsein‘ als den Elementen des Wissens verdeutlichen.
Das Wissen der Wissenschaft liegt in der Form von Sätzen und Zusammenhängen von Sätzen vor, für die Geltung beansprucht wird. Niemand kann behaupten, über wissenschaftliches Wissen zu verfügen, wenn er es nicht sprachlich zum Ausdruck bringen kann. Ein solches Wissen muss also selbst als ein Teil der Welt darstellbar sein, sei es auf Papier oder anderen Materialien, mithilfe elektrochemischer Zustandsveränderungen auf einem Bildschirm oder als akustische Ereignisse in der gesprochenen Sprache. Als wissenschaftliches muss das Wissen mithilfe von Objekten in der Welt repräsentierbar sein. Eine solche Repräsentation muss es erlauben, das Wissen zu reproduzieren. Die Reproduktion muss nach zwei Richtungen möglich sein: zum einen muss sich das Wissen aufbewahren lassen, so dass es mithilfe von Objekten in der Welt, die als Zeichen fungieren, im Prinzip jederzeit als Wissen in einem Subjekt des Wissens wiederhergestellt werden kann; zum anderen muss es sich übertragen lassen, so dass andere Menschen es durch das Verstehen von Zeichen als ihr eigenes Wissen ansehen können, obwohl sie es nicht selbst erzeugt oder gewonnen haben. Ein wissenschaftliches Wissen muss dauerhaft sein und es muss intersubjektiv gelten.
Auf diese Weise stellt es sich als eine besondere Form des Erklärens dar. Eine wissenschaftliche Erklärung unterscheidet sich also von alltäglichen Erklärungen. Für eine wissenschaftliche Erklärung genügt das subjektive Gefühl nicht, dass etwas für den Augenblick und die gegebene Situation befriedigend klar geworden ist. Eine wissenschaftliche Erklärung soll also nicht nur (1)