Ökologie der Wirbeltiere. Werner Suter
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Vormagenfermentierer
Fermentation im Vormagen hat im Vergleich zur Fermentation im Dickdarm den Vorteil, dass das mikrobielle Protein als Quelle essenzieller Aminosäuren und Vitamin B auch ohne Koprophagie zur Verfügung steht. Dafür ist die enzymatische Verdauung weniger effizient, weil sie teilweise durch die Mikroben übernommen wird und dabei die bereits genannten Energieverluste entstehen. Vormagenfermentierer nehmen oft wesentlich längere Retentionszeiten in Kauf, da die Nahrung in einem komplizierten Prozess nur langsam das stark gekammerte Magensystem durchläuft. Dieser Prozess ist bei den Wiederkäuern durch den periodischen Rücktransport von Nahrungsklumpen in den Mund zum intensiven Kauen unterbrochen. In geringem Umfang (wenige Prozent der gewonnenen Energie) schließt sich auch bei den Vormagenfermentierern noch eine zweite Fermentierung im Dickdarmbereich an.
Wiederkäuer haben das Prinzip der Vormagenfermentation durch einen zusätzlichen Sortiermechanismus perfektioniert, der eine extreme Zerkleinerung (und damit Verdauung) der Pflanzennahrung ermöglicht. Bei ihnen ist der Magen in vier Kammern geteilt. Die drei Vormägen, Pansen (rumen), Netzmagen (reticulum) und Blättermagen (omasum) sind eigentlich unterschiedlich differenzierte Teile der Speiseröhre, während der Labmagen (abomasum), der eigentliche Magen, homolog zum einhöhligen Magen vieler anderer Wirbeltiere ist (Abb. 2.15, 2.17). Während der Nahrungsaufnahme wird das weitgehend unzerkaute Pflanzenmaterial im Pansen, der größten der vier Kammern, deponiert. Bei einsetzender Fermentierung sinken die feineren Partikel schneller ab; dies führt im anschließenden Netzmagen zu einer Schichtung nach Partikelgröße. Hier werden die gröberen Partikel aussortiert und in den Pansen zurückbefördert, von wo sie portionenweise, als sogenannter Bolus, zum Wiederkäuen hochgebracht werden; die feineren Partikel aber verlassen den Netzmagen in Richtung des weiteren Verdauungstraktes. So kann Nahrung schnell in größerer Menge aufgenommen und die mechanische Zerkleinerung in Ruhe (meistens liegend; Abb. 2.22) und besser vor Prädatoren geschützt vorgenommen werden. Durch das zweite Kauen werden die Pflanzenteile mechanisch so zerkleinert, dass die Mikroorganismen die Fasern anschließend besser fermentieren können. Die Wiederkäuer erreichen damit, bezogen auf ihre Körpergröße, feinere Partikelgrößen als andere herbivore Säugetiere (Fritz J. et al. 2009). Die Fermentierungsprodukte, kurzkettige Fettsäuren aus Zellulose und Aminosäuren und Ammoniak aus Proteinen, werden vom Wirt zur Energiegewinnung und von den Mikroorganismen teilweise selbst für ihre Vermehrung gebraucht. Im Zuge der Fermentations-Kaskade wird auch Methan produziert und durch Rülpsen an die Umwelt abgegeben (heute sind wiederkäuende Nutztiere die Quelle von etwa 15 % aller Treibhausgase). Der für die Sortierfunktion im Netzmagen unerlässliche hohe Wassergehalt wird durch Speichel in den Vormagen eingebracht und in seinem hinteren Teil (Omasum) dem Nahrungsbrei wieder entzogen. Dann gelangt der Nahrungsbrei ins Abomasum. Dort und im anschließenden Dünndarm findet die enzymatische Verdauung von Fetten, einfachen Zuckern und Aminosäuren statt. Die aus dem Pansen gespülten Mikroben, die hier verdaut werden, sind selber die wesentliche Quelle von Proteinen für die Wiederkäuer.
Abb. 2.20 Der australische Koala (Phascolarctos cinereus) lebt von den Blättern von nur etwa fünf verschiedenen Arten von Eucalyptus, wovon er etwa 500 g pro Tag benötigt. Zur Fermentation dieser stark faserhaltigen Nahrung ist sein Blinddarm enorm entwickelt; er besitzt mit einer Länge von bis zu 2,5 m das größte relative Fassungsvermögen unter allen Säugetieren. Der Blinddarm ist auch für die effiziente Absorption des Wassers aus der Nahrung verantwortlich, denn frei lebende Koalas trinken nur selten freies Wasser.
Der Fasergehalt der Nahrung sagt aus, wie «rau» («Raufutter») die Nahrung ist; die obere Grenze akzeptabler Qualität liegt dort, wo für Kauen und Fermentierung fast so viel Energie ausgegeben wie gewonnen wird. Die Retentionszeit steigt mit dem Fasergehalt und kann bis zu 100 h betragen. Der gesamte Verdauungsprozess der Wiederkäuer ist recht effizient, solange der Faseranteil nicht sehr hoch ist, und ergibt bei mittlerem bis geringem Faseranteil eine Verdaulichkeit organischer Substanz von 65–75 % (Kap. 2.6). Ein weiterer Vorteil ist, dass Stickstoff in Form von Harnstoff rezykliert werden kann. Als Nachteil schlägt zu Buche, dass die Mikroben Nährstoffe verdauen, welche der Wirt selbst hätte nutzen können, und ein Teil der resultierenden Energie dann in Form von Methan verlustig geht.
Zu den Wiederkäuern gehören die Hirschferkel, Hirsche, Moschustiere, Boviden (Kühe, Antilopen, Schafe und Ziegenartige etc.), Gabelböcke und die Giraffen, die alle Angehörige der gleichnamigen Unterordnung Ruminantia (= Wiederkäuer) sind. Auch die Kamelartigen haben ein ähnliches Vormagensystem mit Sortierfunktion und Wiederkäuen entwickelt. Alle funktionellen Wiederkäuer sind damit Paarhufer.
Nicht wiederkäuende Vormagenfermentierer kommen in den verschiedensten Verwandtschaftsgruppen vor. Allen gemeinsam ist die Kammerung des Magens in zwei bis drei sack- und schlauchförmige Teile (Abb. 2.15d, 2.21), wobei die Fermentation wie bei den Wiederkäuern proximal abläuft und vom distalen sauren Milieu (analog dem Abomasum) getrennt sein muss. Sortierung des Fermentierguts nach Partikelgröße und Retention großer Partikel ist anders als bei Wiederkäuern wenig ausgeprägt und fehlt bei großen Arten weitgehend; die Retentionszeiten sind für alle Partikelgrößen relativ lang. Bei Arten mit mehr schlauchförmigem Bau des Vormagens, zum Beispiel dem Känguru, kann Nahrung gleichmäßiger hindurchtransportiert werden, ohne wie bei den Wiederkäuern am Übergang zwischen Reticulum und Omasum zurückgehalten zu werden. Die Annahme, dass Kängurus demnach sehr faserhaltige Nahrung nutzen könnten, während Wiederkäuer im gleichen Fall durch zu lange Retentionszeit an weiterer Nahrungsaufnahme gehindert würden und in ein Energiedefizit gerieten (Hume 2006), steht im Widerspruch zu entsprechenden Felddaten (Meyer K. et al. 2010). Kängurus selektieren im Vergleich zu Schafen eher Nahrung höherer Qualität und können während längerer Zeit konstant Nahrung aufnehmen (Munn 2010). Insgesamt aber ist die Strategie der nicht wiederkäuenden Vormagenfermentierer in ihren Möglichkeiten stärker limitiert als jene der Wiederkäuer (und auch der Dickdarmfermentierer) und scheint sich vor allem auf Arten mit relativ tiefem Grundumsatz und niedriger Rate der Nahrungsaufnahme zu beschränken (Clauss et al. 2010). Zu den Vormagenfermentierern ohne Wiederkäuen gehören Flusspferde, Pekaris, Faultiere, Kängurus und laubfressende Affenarten (Colobus, Nasenaffe; Abb. 2.23). Auch ein blattfressender Vogel, der südamerikanische Hoatzin, praktiziert prägastrische Fermentation (Abb. 2.23).
Abb. 2.21 Verdauungstrakte eines Wiederkäuers (Hausschaf, Ovis aries, links) und eines nicht wiederkäuenden Vormagenfermentierers (Östliches Graues Riesenkänguru, Macropus giganteus) (Abbildung neu gezeichnet nach Stevens C. E. & Hume 1995).
Wale und Delfine, die nahe mit den Paarhufern verwandt sind, besitzen ebenfalls einen sehr langen Verdauungstrakt mit einem mehrkammerigen Magen (Berta et al. 2006). Allerdings ist nur der erste Teil drüsenfrei (gegenüber Rumen, Reticulum und Omasum der Wiederkäuer), doch gibt es Hinweise, dass vor allem Bartenwale in diesem Vormagen fermentieren, um das Chitin der gefressenen Krustentiere (Krill) zu assimilieren (Olsen M. A. et al. 2000).
Abb. 2.22 Bei diesem wiederkäuenden weiblichen Wasserbock (Kobus ellipsiprymnus) erkennt man die mahlenden Kaubewegungen.
2.5 Nahrungsstrategien der Herbivoren
Vereinfacht