Wirtschaftsgeographie. Harald Bathelt
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Box 4-1: Bedeutung von face-to-face-Interaktion
Zwar wird in vielen wirtschaftsgeographischen Studien die große Bedeutung räumlicher Nähe betont, allerdings bleibt der eigentliche Vorteil ökonomischen Handelns von Angesicht zu Angesicht (face-to-face) dabei oft verborgen und unverstanden. Vorteile räumlicher Nähe werden teilweise vorausgesetzt, aber nicht empirisch belegt. Aus diesem Grund ist es hilfreich, die sozialpsychologische Literatur heranzuziehen, die schon seit längerer Zeit nahe und entfernte Kommunikations- und Interaktionsprozesse untersucht und dabei soziale und kognitive Faktoren im Zusammenhang mit dem face-to-face-Austausch betont. Diese Studien gestatten einen tieferen Einblick in die Prozesse des „being there“ (Gertler 1995). In ihrer grundlegenden Analyse von Kommunikationsprozessen durch Telekommunikation haben Short et al. (1976) insbesondere die Rolle nonverbaler Signale wie Gesichtsausdruck, Blickrichtung, Körperhaltung und physischer Distanz betont, die bei face-to-face-Kommunikation eine zentrale Rolle spielen und diese einzigartig machen. In der sozialpsychologischen Literatur werden zwei grundlegende Funktionen der face-to-face-Kommunikation unterschieden: Die erste Gruppe von Wirkungen betrifft die Informationsfunktion. Sie drückt sich zunächst in der illustrierenden Wirkung aus. So werden beispielsweise Gesten verwendet, um ein Gesprächsobjekt zu illustrieren. Die durch diese Gesten eingeführte Redundanz erleichtert das Verstehen durch die Zuhörer. Daneben werden parallel symbolische Gesten eingesetzt, die Sprachbotschaften ersetzen, wie beispielsweise das Kopfschütteln, um ein „Nein“ auszudrücken. Letztlich helfen derartige Signale dem Zuhörer, die Position oder Meinung des Sprechers abzuschätzen, etwa wenn die Körperhaltung eine offene oder abwehrende Position zum Thema suggeriert. Dies ist beispielsweise für Unternehmen auf Messen eine große Hilfe, um neue Entwicklungen in intensiven Gesprächen zu bewerten (Bathelt und Schuldt 2008). Die zweite Gruppe von Wirkungen betrifft die Integrationsfunktion der face-to-face-Kommunikation (Birdwhistell 1970). Nonverbale Signale sind diesbezüglich von Bedeutung, um den Partnern im Gespräch gegenseitige Aufmerksamkeit zuzusichern. Dies geschieht während des Gesprächsverlaufs durch Blickkontakt, Zustimmung durch Kopfnicken etc. Zudem erlauben vielfältige Signale wie etwa Fingerzeig oder Blickkontakt einen reibungslosen Gesprächsverlauf zwischen den beteiligten Personen. Eine zentrale Funktion der face-to-face-Kommunikation besteht darin, dass nicht nur die Weitergabe von Informationen und Wissen illustriert und erleichtert wird, sondern zugleich die Sprecher ständig nonverbale Reaktionen ihrer Zuhörer aufnehmen, die einen feedback-Mechanismus in Bezug auf die Gesprächsinhalte bewirken. Die Sprecher erhalten somit eine sofortige Rückmeldung darüber, ob komplexe Zusammenhänge verstanden worden sind, ob die Zuhörer folgen können oder ob sie dem Gesagten nicht zustimmen. In jedem Fall erhalten die Redner die Möglichkeit, ihre Rede unverzüglich anzupassen, indem sie zusätzliche Erläuterungen hinzufügen oder eine Erklärung überspringen, die die Zuhörer langweilt. Dies hilft selbst komplexe Themen zwischen mehreren Parteien effizient zu kommunizieren und ein Feedback einzuholen (Storper 1997 a). Zusammengenommen reduzieren nonverbale Signale in der face-to-face-Kommunikation die Ungewissheit zwischen den Beteiligten und begünstigen eine Atmosphäre, die Vertrauensaufbau ermöglicht (Leamer und Storper 2001), was etwa beim Markteintritt in einen neuen Markt von großer Bedeutung ist. Räumliche Nähe wird somit zu einer Voraussetzung, um anhaltende Kooperation durch ständigen Austausch von gegenseitigen Verpflichtungen und Versicherungen zu unterstützen (Olson und Olson 2003) und Kohärenz zu erreichen. Zudem schafft face-to-face-Interaktion die Möglichkeit, die Aktionen von Partnern im engeren Umkreis genau zu überwachen (Crang 1994), und stellt damit zugleich eine Möglichkeit dar, Macht über Arbeitskräfte oder Zulieferer auszuüben (Allen 1997). All diese Vorteile kopräsenter Kommunikation begründen die starke Zunahme von Geschäftsreisen in einer zunehmend globalisierten Wirtschaft (Faulconbridge et al. 2009).
Torre und Rallet (2005) unterscheiden in ihrer Arbeit zwei prinzipielle Formen von Nähe: geographische bzw. räumliche Nähe und organisierte Nähe, wobei letztere kein räumliches Konzept darstellt, sondern Ausdruck einer sozialen Affinität ist, die oftmals nicht automatisch vorliegt, sondern zwischen den betreffenden Akteuren zunächst herzustellen oder herbeizuführen ist (Rallet und Torre 2017). Die Formen organisierter Nähe oder Affinität, die nachfolgend diskutiert werden, ermöglichen es, ökonomische Prozesse über oftmals große Distanzen zu organisieren (Bathelt und Henn 2014).
(2) Kognitive Nähe. Räumliche Nähe führt keineswegs dazu, dass Unternehmen automatisch Partnerschaften eingehen oder Netzwerke bilden. Manchmal versprechen sich die Unternehmen keine Vorteile von einer lokalen Partnerschaft, weil sie nicht glauben, daraus neues Wissen generieren zu können. Tatsächlich verläuft die Erzeugung von Wissen inkrementell und kumulativ, sodass Unternehmen eine spezialisierte Wissensbasis entwickeln, die ihren spezifischen Problemen und Ausrichtungen folgt. Man könnte deshalb schlussfolgern, dass Unternehmen eine Partnerschaft mit einem anderen Unternehmen speziell dann eingehen, wenn dessen Wissensbasis hinreichend viele Unterschiede zu der eigenen aufweist, damit etwas Neues dazugelernt werden kann. Zugleich muss es auch hinreichend viele Gemeinsamkeiten geben, damit Wissen effizient getauscht werden kann (Nooteboom 2000 b; Boschma und Frenken 2006; Castaldi et al. 2015). So ist es keineswegs eine Selbstverständlichkeit, dass Unternehmen das von ihnen benötigte Wissen korrekt identifizieren, interpretieren und anschließend erfolgreich umsetzen können (Cohen und Levinthal 1990). Akteure benötigen kognitive Nähe im Sinn einer ähnlichen, verwandten Wissensbasis, um miteinander kommunizieren zu können. Zugleich scheint aber ein Mindestmaß an kognitiver Distanz sinnvoll, damit die Unternehmen überhaupt voneinander lernen können (Nooteboom 2000 b).
(3) Institutionelle Nähe. Eine äußere Grenze der räumlichen Nähe ist durch die für ökonomische Verflechtungsbeziehungen erforderliche oder förderliche institutionelle Nähe gegeben (Nelson 1988; Berndt 1996). Institutionelle Nähe (manchmal auch ein wenig irreführend als kulturelle Nähe bezeichnet) bezieht sich auf die einheitlichen, insbesondere nationalstaatlich definierten Koordinationsstrukturen und -prinzipien, welche die Art und Stabilität der Beschäftigungs- und Produktionsverhältnisse und der Arbeits-Kapital-Beziehungen betreffen wie z. B. die Zusammenhänge zwischen Bildungssystem, Industriearbeit und technologischem Wandel (Gertler 1992; 1997). Institutionelle Nähe (die man natürlich nicht nur auf nationalstaatlicher Ebene ansetzen kann) ist umso größer, je geringer die zu überwindenden institutionellen Unterschiede sind. Eine zu geringe institutionelle Nähe kann Probleme bei der Adaption neuer Technologien und Organisationsprinzipien verursachen, die in anderen Ländern entwickelt worden sind und dort erfolgreich angewendet werden (Gertler 1995; 1996). Dies mag auch erklären, warum Zulieferbeziehungen innerhalb nationalstaatlicher Grenzen meist stärker als z.B. in industriellen Ballungsräumen – d. h. in räumlicher Nähe – ausgeprägt sind. Anders als in den Studien der 1960er- und 1970er-Jahre, die dies zunächst als scheinbaren Widerspruch bewerteten (Schickhoff 1983, Kap. II und III), zeigt sich hierin die große Bedeutung des Nationalstaats zur Schaffung institutioneller Nähe.
(4) Organisatorische Nähe. Internationalisierungs- und Globalisierungsprozesse von Produktions- und Marktbeziehungen sind den Konzepten der räumlichen und kulturellen Nähe offensichtlich entgegengerichtet. Fehlende räumliche oder institutionelle Nähe kann jedoch unter Umständen durch organisatorische Nähe (nicht zu verwechseln mit organisierter Nähe) ersetzt oder ausgeglichen werden. Dies geschieht, indem Unternehmen im Rahmen von Fusions- und Akquisitionsaktivitäten neue Unternehmen oder Unternehmensteile in anderen Ländern erwerben, um somit Zugang zu deren angestammten Märkten zu erlangen und entsprechendes Marktwissen zu erwerben (Dicken 1994; Schamp 1996; Storper 1997 c). Durch diesen Schritt findet im Prinzip innerhalb von Unternehmen eine Substitution von distanzabhängigen gleichberechtigten Verflechtungsbeziehungen durch distanzunempfindliche hierarchische Anweisungsstrukturen statt. Wachsende räumliche Distanzen in den Produktionsbeziehungen sind dabei die Voraussetzung für zunehmende räumliche und institutionelle Nähe in den Interaktionen mit Abnehmern (Malecki 2009).
(5) Virtuelle Nähe. Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglichen in Echtzeit, also ohne Zeitverzögerung und über große Entfernungen hinweg, eine effektive Wahrnehmung von Koordinations- und Überwachungsaufgaben