Wirtschaftsgeographie. Harald Bathelt

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Wirtschaftsgeographie - Harald Bathelt

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zwischen selbstständigen Unternehmenseinheiten virtuelle Nähe. Es ist abzusehen, dass diese durch Innovationen bei IT-Dienstleistungen in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen wird und zur Erschließung neuer Potenziale für weltweit integrierte Produktions- und Marktstrukturen führt (Bathelt und Turi 2011; Bathelt und Henn 2014).

      Aus den Nähekonzepten ist seit Ende der 1990er-Jahre die sogenannte Proximity School (Rallet und Torre 1999; 2017; Torre und Rallet 2005) hervorgegangen. Davon inspiriert argumentiert Boschma (2005), dass sich Probleme des ökonomischen Tauschs analysieren lassen, indem verschiedene Ebenen der Nähe im Wechselspiel miteinander analysiert werden, wobei zu große Distanz auf einer Ebene durch Nähe auf einer anderen Ebene ersetzt werden kann (Boschma und Frenken 2005). Trotz ihrer Plausibilität birgt diese Argumentationskette jedoch Probleme in sich. So werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten bzw. Affinitäten und Dissonanzen mit Hilfe einer räumlichen Semantik in der Begrifflichkeit von Nähe und Distanz abgebildet. Dabei wird Nähe implizit mit Erfolgen, Distanz mit Problemen und Misserfolgen in Verbindung gebracht. Eine solche Interpretation ist aber erstens empirisch vielfach nicht korrekt (denn viele Unternehmen verzichten oft bewusst auf Interaktionen in ihrem engeren Umfeld und sind stattdessen erfolgreich in ihren weltweiten Transaktionen) und zweitens birgt sie die Gefahr, sich auf eine abstrakte Diskussion von verschiedenen Nähekonzepten einzulassen, ohne die tatsächlichen Probleme und Motivationen der betroffenen Akteure genau zu untersuchen und hier mit einer Lösung anzusetzen (Bathelt 2005 a; Gibson und Bathelt 2014). Durch derartige räumliche Semantiken (Glückler 1999) bzw. ‚sprachliche Verräumlichungen‘ rücken letztlich Konzepte in das Zentrum wirtschaftsgeographischer Analyse, die sozialer, institutioneller oder organisatorischer Art sind, aber so behandelt werden als seien sie räumlich. In jüngeren Studien der Proximity School wird dies durchaus kritisch gesehen (Rallet und Torre 2017).

      Ökonomische Interaktions- und Kommunikationsprozesse werden besonders komplex, wenn Unternehmen über große räumliche Distanzen hinweg und zwischen verschiedenen kulturellen und institutionellen Kontexten unterschiedlicher Länder Austauschbeziehungen unterhalten. Um die kulturellen und institutionellen Unterschiede zu überbrücken und einen gemeinsamen Interaktionszusammenhang zu schaffen, so könnte man argumentieren, ist es notwendig, Nähe oder Affinität zwischen den Akteuren herzustellen. Dass dies selbst dann nicht gelingt, wenn Unternehmen sich zu einer Fusion oder Akquisition entschließen und damit organisatorische Nähe herstellen, zeigt sich daran, dass viele Unternehmenszusammenschlüsse scheitern (Storper 1997 c). Dabei wird unterschätzt, wie schwierig es ist, unterschiedliche Unternehmenskulturen zusammenzuführen.

      Dabei zeigt die ökonomische Realität, dass Transaktionen über kulturelle und institutionelle Grenzen hinweg keineswegs eine Ausnahme darstellen, sondern mit fortschreitender Globalisierung immer mehr an Bedeutung gewinnen. Prozesse der ökonomischen Interaktion und Wissensgenerierung scheinen immer weniger an spezielle lokale oder regionale Kontexte gebunden zu sein, sondern können zwischen Unternehmen in verschiedenen Teilen der Welt stattfinden, wenn es gelingt andauernde enge Beziehungen zwischen Akteuren herzustellen. Diese Form der relationalen Nähe (Amin und Cohendet 2004) ist mit dem Aufbau von Vertrauen, gegenseitigem Verständnis und Reziprozität in spezifischen Beziehungen verbunden und kann aus Strukturen sozialer Gruppen oder Schichten hervorgehen (die im Konzept der sozialen Distanz eine Rolle spielen). Relationale Nähe kann aus gemeinsamen beruflichen und/oder privaten Erfahrungen in der Vergangenheit resultieren, wenn die betreffenden Akteure beispielsweise an demselben Standort über einen längeren Zeitraum zusammengearbeitet und sich kennengelernt haben oder daraus, dass die Akteure regelmäßig an einem Unternehmensstandort oder einem anderen Treffpunkt zusammenkommen, um Details und Probleme der Zusammenarbeit abzustimmen bzw. auszuräumen. Hierbei wird temporäre Nähe genutzt, um institutionelle Unterschiede aufgrund großer räumlicher Distanz zu vermitteln und zu begrenzen (Bathelt 2005 b). Diese temporäre räumliche Nähe kann im Zeitablauf den Aufbau relationaler Nähe begründen und generiert Möglichkeiten, permanente Nähe in Produktionsbeziehungen dauerhaft durch Konfigurationen der Produktion und des Wissenstransfers über Distanz zu ersetzen (Bathelt und Henn 2014). Nach Thrift (2000 b) und Amin und Cohendet (2004) erzeugen globale Wanderungs- und Kommunikationsströme im Geschäftsleben (z.B. Geschäftsreisen; Messebesuche) die Chance, neuartige Transaktionsbeziehungen über räumliche Distanzen hinweg in der globalen Ökonomie aufzubauen. Dies wird durch unterschiedliche Konstellationen begünstigt.

      (1) Geschäftsreisende. Sie treffen sich wiederholt und regelmäßig an neutralen Plätzen in verschiedenen Teilen der Welt, wie z. B. in Flughafenhotels, um dort intensive Gespräche face-to-face zu führen (Faulconbridge et al. 2009).

      (2) Qualifizierte Ingenieure und Manager. Sie befinden sich für einen gewissen Zeitraum zu Montage- und Schulungszwecken an einem neuen Unternehmensstandort in einem anderen Land und transferieren die vor Ort gemachten Erfahrungen später in das Unternehmen zurück (Glückler 2008).

      (3) Transnationale epistemische communities aus Mitarbeitern und Spezialisten. Sie sind durch ihre Erfahrungen in unterschiedlichen kulturellen und institutionellen Kontexten in der Lage, als boundary spanners zu fungieren (Coe und Bunnell 2003; Bathelt und Depner 2005; Torre und Rallet 2005).

      (4) Neue Argonauten (New Argonauts). Im Kontext von transnationalen Beziehungen und Unternehmensgründungen spielen die sogenannten Neuen Argonauten, die in der Arbeit von Saxenian (2006) thematisiert werden, eine zentrale Rolle (Henn und Bathelt 2017). Am Beispiel der Hightech-Regionen Silicon Valley und Hsinchu, Taiwan, lässt sich zeigen, wie Neue Argonauten Erfahrungen aus einem neuen geographischen Kontext durch Unternehmensgründungen in einen früheren Kontext zurücktransformieren (Hsu und Saxenian 2000). Wie auch das Beispiel der Familiennetze jüdischer und indischer Diamantenhändler in globalen Transaktionsbeziehungen zeigt, nutzen die Akteure ihre Wettbewerbsvorteile, um auf beiden Seiten Wachstumsimpulse zu generieren (Henn 2010; 2012 a; 2013).

      (5) Spezifische Internet-interfaces. Sie fungieren als Denkstudios und ermöglichen effiziente Problemanalysen in Produktion und Entwicklung über beliebige Entfernungen hinweg.

      (6) Internationale Leitmessen (→ Box 4-2). An ihnen nehmen weltweit führende Unternehmen einer Branche oder Wertschöpfungskette teil, um Informationen über Marktentwicklungen und Innovationen auszutauschen (Maskell et al. 2006; Schuldt und Bathelt 2011; Bathelt et al. 2014) und neue Geschäftsbeziehungen zu knüpfen oder bestehende Beziehungen weiterzuentwickeln (Brailly 2016; Panitz und Glückler 2017).

      Box 4-2: Internationale Leitmessen als globale Knotenpunkte

      Messeveranstaltungen werden in der betriebswirtschaftlichen Literatur vorwiegend als Marketinginstrument zum Anwerben neuer Käuferschichten, zur Markenbildung und zum Imageaufbau sowie als Verkaufs- bzw. Vertriebsinstrumente zur direkten oder indirekten Steigerung des Absatzes diskutiert (Meffert 1993; Backhaus und Zydorek 1997; Kirchgeorg 2003). Tatsächlich ist der Abschluss von Verträgen in fast allen Branchen traditionell eine zentrale Funktion von Messeveranstaltungen und auch heute noch auf vielen Veranstaltungen von Bedeutung. Aber kommen Akteure immer nur mit unmittelbaren Kauf- oder Verkaufsabsichten auf Messeveranstaltungen? Dies ist bei Weitem nicht so – weder bei den Besuchern noch bei den Ausstellern. Die Zielsetzungen der teilnehmenden Akteure sind im Gegenteil sehr vielschichtig und heterogen. Viele kleine Unternehmen nutzen Messen beispielsweise als Ideengeber und beabsichtigen, sich einen Marktüberblick zu verschaffen. Sie versuchen Trends aufzuspüren, die sie später in der eigenen Produktion nutzbar machen können (Bathelt und Zeng 2015). Ausländische Unternehmen sind bestrebt, durch Messepräsenz etwa den Markteinstieg in einem anderen Land vorzubereiten. Unternehmen aus weniger entwickelten Ländern und Schwellenländern (z. B. aus Osteuropa und Südostasien) versuchen Designideen oder Muster zu erhalten, die sie für ihren Heimatmarkt (sowie im Hinblick auf weitere Märkte) imitieren können. Andere Un­ternehmen streben während einer Messeveranstaltung vor allem an, ihre Beziehungen zu bestehenden Kunden und Lieferanten zu vertiefen. Wiederum andere Hersteller nehmen teil, um Kooperationspartner

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