Terrafutura. Carlo Petrini
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Als die Jesuiten nach China kamen, sind Matteo Ricci und seine Gefährten tief in die dortige Kultur eingedrungen, sie haben die Sprache gelernt, haben die Gewohnheiten und Gebräuche ihres Gastlandes studiert. Sie kleideten sich wie Chinesen, sprachen und aßen wie sie. Es waren Menschen, die die chinesische Kultur begriffen hatten, und erst als sie so weit gekommen waren, wagten sie zu behaupten, dass »das Evangelium auch hier lebendig sein kann«, wobei sie in der Tat einige chinesische Rituale akzeptierten. Die Theologen hier in Rom haben die Welt nicht mehr verstanden und empörten sich: »Aber der chinesische Totenkult ist Götzenanbetung!« Das stimmte nicht; in Wirklichkeit war es genau dasselbe, was wir taten: Totengedenken. Es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen unserem 2. November und dem, was die Chinesen zu Zeiten Riccis taten. Aber die Kirche hat das damals nicht erkannt und die Tore zum Evangelium in China tatsächlich geschlossen. Genau dasselbe ist mit Roberto De Nobili in Indien passiert. Seltsam, dass beide, Ricci und De Nobili, Italiener waren. Das gibt zu denken. Was haben die Italiener, dass sie diese Fähigkeit zur Verallgemeinerung entwickeln?
CJa schon, aber es waren auch Italiener, die ihnen die Flügel gestutzt haben!
FNun ja, sozusagen zum Ausgleich … (sie lachen)
CIm Zusammenhang mit diesem Thema erinnere ich mich an ein außergewöhnliches Erlebnis, das nunmehr zwölf Jahre zurückliegt. Ich bin damals nach Brasilien in den Bundesstaat Roraima gereist, wo einige Consolata-Missionare ein Krankenhaus für die dortige indigene Gemeinde der Yanomami errichtet hatten. In meiner Heimatstadt Bra sammelte man, im Namen der bei uns tief verehrten Madonna dei Fiori, Gelder für die Consolata-Missionare. Dank dieses Kontakts übernahmen wir als Slow-Food-Bewegung die Aufgabe, das Projekt bezüglich Ernährung zu unterstützen. Als Erstes mussten wir darum kämpfen, dass keine Pasta serviert wurde, ein Nahrungsmittel, das keinerlei Verbindung zu der lokalen Kultur und dem dortigen Umfeld, dem Amazonasregenwald, hat – viele dortige Bewohner hatten noch nie in ihrem Leben eine Weizenpflanze gesehen. Aber besonders »amüsant« wurde es, als ich die Missionare fragte, wie es komme, dass das Krankenhaus, das, soweit ich mich erinnerte, der Madonna dei Fiori geweiht war, den Namen Yecura Yano trage, und was er zu bedeuten habe. Er bedeutet »der Geist, der heilt«. Und die Madonna dei Fiori? Antwort: »Nun ja, wir konnten uns schließlich nicht hinstellen und den Indigenen die Madonna dei Fiori erklären, wir legen hier Zeugnis ab und betreiben nicht Bekehrung, wichtig ist, allen eine grundlegende ärztliche Versorgung zu garantieren.« Für mich war das eine unglaublich wichtige Lektion, ich habe zum ersten Mal erfasst, dass es einen anderen Weg gibt, das Evangelium zu verkünden, nämlich es zu leben, ohne es aufzuerlegen. Derselbe Missionar kam einige Zeit später für einen kurzen Verwandtenbesuch nach Bra, und natürlich fragten ihn die Stadtbewohner, wo man denn die Madonnenstatue aufgestellt habe, die man ihm aus Bra geschickt hatte. Ich wusste, dass sie in einem Lagerraum aufbewahrt wurde, aber er antwortete geschickt: »Seien Sie unbesorgt, ich bekomme die Madonna tagtäglich zu Gesicht!« (sie lachen) Da habe ich begriffen, dass es echte Integration gibt. Ihr Grundsatz lautete: »Wenn jemand unser Handeln sieht und uns näherkommen möchte, werden wir es ihm erklären, aber wir betreiben keinen Proselytismus – keine Abwerbung von Gläubigen anderer Religionen.«
FDas stimmt, das stimmt. Genau das hat 2007 der damalige Papst Benedikt XVI. explizit formuliert, und zwar ausgerechnet in Aparecida in Brasilien. Er sagte damals: »Die Kirche betreibt keinen Proselytismus, sie entwickelt sich vielmehr durch Anziehung.« Es handelte sich also um eine päpstliche Absage an den Proselytismus.
CJa, das ist aber doch eine epochale Wende!
FDeshalb ärgere ich mich so, wenn behauptet wird, Benedikt sei ein Konservativer, Benedikt war ein Revolutionär! Mit vielen Dingen, die er getan, mit vielem, was er gesagt hat, war er ein Revolutionär! Dann ist er gealtert und konnte nicht mehr weitermachen, aber so gesehen war er wirklich ein Revolutionär.
CSie stellen sich diese Lateinamerikasynode also als »interkulturell« vor …
FAuf jeden Fall. Als ich nach Amazonien gereist bin, haben sich einige im Vatikan darüber aufgeregt: »Was, der Papst betet mit diesen Leuten, die halb nackt leben?« Sie haben nicht begriffen, dass diese Indigenen hochgebildet sind! Ich hatte die Ehre, an einem Mittagessen teilzunehmen, bei dem etwa ein Dutzend Personen verschiedener Ethnien anwesend war, und es war eine außergewöhnliche Erfahrung. Unter ihnen waren Universitätsdozenten und auch zwei Schuldirektoren. Gebildete Menschen, die jedoch an der Tradition festhielten, an dem, was sie das gute Leben nennen, was allerdings nicht unserem guten Leben entspricht. Es handelt sich vielmehr darum, »gut zu leben«, also im Einklang mit sich selbst, mit der eigenen Gemeinschaft und der Natur. Unser gutes Leben ist eher das süße Leben. Etwas ganz anderes.
CWir können von diesen Kulturen und ihrer Spiritualität also viel lernen.
FGanz bestimmt, und wir müssen dazu beitragen, diese Unterschiede zu bewahren.
CEin letzter Punkt, zu dem ich gerne Ihre Meinung hören würde, betrifft die Gemeinschaften. Vor einigen Monaten habe ich in Santiago de Chile Fritjof Capra getroffen, einen österreichisch-amerikanischen Physiker und Philosophen und wahrhaft hellsichtigen Denker. Er sagte zu mir: »Carlo, angesichts der Entwicklung der globalen Politik glaube ich, dass die Zukunft in den Gemeinschaften liegt. Die Gemeinschaften können zu äußerst wichtigen Akteuren werden, da sie kraft ihres emotionalen Rückhaltes in der Lage sind, sich großen und anspruchsvollen Herausforderungen zu stellen.« Letztlich lassen sich in einer Gemeinschaft eben deshalb mutige Entscheidungen treffen und schwierige Probleme angehen, weil jeder Einzelne auf das Bewusstsein des emotionalen Rückhaltes bauen kann, den ihm die Gemeinschaft auch im Falle eines Irrtums gewähren wird. Und bei genauerer Betrachtung waren es stets die Gemeinschaften, die in den dunkelsten und schwierigsten Zeiten der Menschheitsgeschichte die weitreichendsten und positivsten Erneuerungen herbeigeführt haben. Man denke nur an die Benediktiner-Gemeinschaften, die im Spätmittelalter die Landwirtschaft und damit ganz Europa erneuert haben. Mich würde interessieren, wie Sie darüber denken. Auch deshalb, weil wir bei unserer Namenswahl zunächst an »Laudato-si’-Komitees« gedacht hatten, uns dann aber sagten, nein, nein, wir nennen uns Laudato-si’-Gemeinschaften.
FWo wir gerade dabei sind: Kennen Sie den wahren Unterschied zwischen Komitee und Gemeinschaft? Er besteht im Grad der Zugehörigkeit. In einem Komitee gibt es eine organisatorische Zugehörigkeit, eine funktionale, oberflächliche oder zumindest auf ein Ziel beschränkte Zugehörigkeit. In einer Gemeinschaft geht es dagegen um vollkommene Zugehörigkeit. Ich gehöre zu dieser Gemeinschaft – ich bin frei, aber gänzlich Teil von ihr. Und auch außerhalb davon werde ich auf jeden Fall mit meiner Gemeinschaft identifiziert. Zugehörigkeit ist sehr eng mit Identität verknüpft, und so lautet denn auch die Definition, die mir am besten zusagt, ohne dass ich weiß, von wem sie stammt: Identität bedeutet Zugehörigkeit. Es gibt keine herausgelöste Identität, sie muss eingebunden sein in eine Gesellschaft oder Gemeinschaft. So ist das, das ist Zugehörigkeit.
CDas erleben wir gerade bei dieser neuen Identität. Die Verbindung von Gläubigen und Ungläubigen bringt ein neues Subjekt hervor. Auf dem Weg dahin erscheinen wir wie der Teufel und das Weihwasser. Aber die Menschen begeistern sich für uns, weil sie erkennen, dass es letztlich das Gemeinwohl ist, was uns zusammenhält … Danke, Eure Heiligkeit! Wie ist es Ihnen ergangen?
FGut, ich habe mich sehr heimisch gefühlt.
1Auf Deutsch: Papst Franziskus, Mit Frieden gewinnt man alles. Im