Hat China schon gewonnen?. Kishore Mahbubani
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Dass der Westen die Welt nicht länger dominieren kann, liegt unter anderem daran, dass die restliche Welt so viel vom Westen gelernt hat. In Feldern wie Ökonomie, Politik, Wissenschaft und Technologie haben die anderen Länder vieles übernommen, was sich im Westen zum Standard entwickelt hat. Das Ergebnis: Weite Teile der westlichen Zivilisation (insbesondere Europa) wirken erschöpft, antriebsarm und energielos, während gleichzeitig andere Zivilisationen gerade erst loslegen. In dieser Hinsicht ähneln menschliche Gesellschaften anderen lebenden Organismen. Sie durchlaufen Lebenszyklen.
Chinas Zivilisation hat viele Aufs und Abs hinter sich, insofern sollte es niemanden überraschen, dass sie jetzt wieder erstarkt. China existiert seit mehr als 2.000 Jahren und seine Zivilisation hat im Laufe der Zeit kräftige Sehnen entwickelt. Professor Wang Gungwu merkt an, dass die Welt viele alte Zivilisationen kennt, aber es nur eine einzige gibt, die viermal abgestürzt und wieder auferstanden ist – die chinesische. Als Zivilisation ist China erstaunlich widerstandsfähig, zudem ist das chinesische Volk ausgesprochen talentiert. Blicken die Chinesen auf ihre über 2.000 Jahre währende Geschichte zurück, ist ihnen sehr wohl bewusst, dass es der chinesischen Zivilisation, seit Qin Shi Huang im Jahr 221 vor unserer Zeitrechnung China vereinte, niemals so gut ergangen ist wie während der vergangenen 30 Jahre unter der Herrschaft der KPCh. Unter dem kaiserlichen System der vergangenen 2.000 Jahre ist der gewaltige Pool an zur Verfügung stehender Intelligenz größtenteils nie dermaßen entwickelt worden wie heute, in den vergangenen 30 Jahren wurde er zum ersten Mal in der Geschichte Chinas in enormem Umfang angezapft.
Die Kombination aus kulturellem Selbstvertrauen, das die Chinesen seit Jahrhunderten besitzen, und dem vom Westen übernommenen Wissen verleiht der chinesischen Gesellschaft heute eine ganz besondere Vitalität. Jean Fan, eine chinesischstämmige Amerikanerin, die an der Uni Stanford im Bereich Wissenschaft forscht, besuchte 2019 China und merkte anschließend an: „China verändert sich auf eine weitreichende und instinktive Weise und es verändert sich schnell, auf eine Art und Weise, die, wenn man es nicht selbst erlebt, nahezu unverständlich ist. Im Gegensatz zu Amerikas Stagnation sind in China Kultur, Selbstverständnis und Moral einem raschen Wandel unterzogen – größtenteils zum Besseren.“12
Könnte man messen, wie sich die jeweilige Stärke und Widerstandskraft unterschiedlicher menschlicher Zivilisationen über einen Zeitraum von mehr als 2.000 Jahren entwickelt haben, könnte Chinas Zivilisation durchaus auf dem ersten Platz stehen. Die außerordentliche Vitalität von Chinas Gesellschaft ist kein Einzelfall. Auch andere asiatische Gesellschaften blühen auf, weil der Westen ein guter Lehrer für die restliche Welt war und seine Lehren breit gestreut hat.13
Aufgrund einer ungewöhnlichen kulturellen Eigenart kann ich mich kompetent zur zivilisatorischen Vitalität unterschiedlicher asiatischer Gesellschaften äußern. Meine kulturellen Verbindungen reichen in diverse Gesellschaften Asiens hinein, Heimat der einen Hälfte der Menschheit, von Teheran bis Tokio. Geboren wurde ich 1948 in Singapur als Kind zweier hinduistischer Sindhi-Eltern, was mich mit mehr als einer Milliarde Hindus in Südasien verbindet. [Anm. d. Übers.: Sindhi wird vor allem in der südpakistanischen Region Sindh gesprochen.] In neun der zehn südostasiatischen Staaten weist die Kultur indische Wurzeln auf. Wenn ich in Südostasien Zeuge werde, wie Geschichten aus dem Ramayana und dem Mahabharata (ein fester Bestandteil meiner Kindheit) aufgeführt werden, spüre ich meine Verbindung zu ihnen. [Anm. d. Übers.: Es handelt sich um die beiden indischen Nationalepen.] Mehr als 550 Menschen leben in diesem südostasiatisch-indischen Raum. Meine Eltern waren 1947 wegen der schmerzhaften Trennung zwischen dem hinduistisch dominierten Indien und dem islamisch geprägten Pakistan ausgewandert. Als Kind lernte ich, Sindhi mit seiner arabischen Schrift zu lesen und zu schreiben. Mein Name Mahbubani stammt vom arabisch-persischen Wort mahbub ab, was so viel wie „Angebeteter“ bedeutet. Wann immer ich also den arabischen oder iranischen Kulturraum besuche, kann ich dorthin ebenfalls eine kulturelle Verbindung spüren. Und wenn ich buddhistische Tempel in China, Korea und Japan aufsuche, kann ich ebenfalls eine Form der kulturellen Verbundenheit wahrnehmen. Die Ursprünge des Buddhismus mit seinen Wurzeln im Hinduismus liegen in Indien. Als ich klein war, ging meine Mutter zum Beten mit mir genauso in buddhistische Tempel wie in Hindutempel.
Diese persönliche Verbindung zu einer erstaunlich weiten Spanne asiatischer Gesellschaften sowie meine zehn Jahre als Botschafter an den Vereinten Nationen haben mich zu der Überzeugung gebracht, dass sich im Reich der internationalen Angelegenheiten die Textur und die Chemie der Welt auf eine Art und Weise gewandelt haben, von der die meisten Amerikaner nichts mitbekommen haben. 193 Nationalstaaten sind Mitglieder der UNO. Eine einfache Frage, die wir uns in diesem Zusammenhang stellen sollten: China oder die Vereinigten Staaten, welches Land schwimmt in dieselbe Richtung wie die Mehrheit der anderen 191 Staaten?
Die meisten Amerikaner gehen davon aus, dass Amerikas Politik und Amerikas Ziele von Natur aus im Einklang mit dem Rest der Welt stehen, schließlich übt Amerika seit Jahrzehnten eine Führungsrolle gegenüber dem Rest der Welt aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab Amerika die allgemeine Richtung für die liberale internationale Ordnung vor (die „auf Regeln basierende internationale Ordnung“ wäre vermutlich treffender). Die wichtigsten globalen multilateralen Institutionen entstanden allesamt auf dem Höhepunkt der amerikanischen Macht, darunter die Vereinten Nationen, die Welthandelsorganisation (WTO), der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank. Sie spiegeln amerikanische Werte wider und ihre kulturelle Identität ist westlich, nicht asiatisch oder chinesisch. Doch obwohl diese Institutionen westliche Werte und Prioritäten repräsentieren, hat sich Amerika in den vergangenen Jahren von ihnen abgewandt, während sich der Rest der Welt und insbesondere China ihnen zugewandt hat.
Kurzum: Es ist alles andere als gewiss, dass Amerika den Wettstreit gewinnen wird. Chinas Chancen, als dominierender Einfluss auf der Weltbühne hervorzugehen, sind genauso groß wie die Amerikas. Tatsächlich bereiten sich viele aufmerksame Anführer und Beobachter in strategisch sensiblen Ländern rund um den Globus auf eine Welt vor, in der China die Nummer 1 sein könnte.
Aber genauso wie es ein strategischer Fehler amerikanischer Denker war, einen Erfolg als unumgänglich vorauszusetzen, wäre es ein ebenso kolossaler strategischer Schnitzer Chinas, nun seinerseits einen Erfolg als garantiert zu erachten. Wenn es um die Größe und die Widerstandsfähigkeit seiner Gesellschaft geht, genießt China viele Vorteile, aber Chinas Führung wäre schlecht beraten, würde sie die grundsätzliche Stärke der amerikanischen Wirtschaft und Gesellschaft unterschätzen. Nachdem die Finanzkrise 2008/2009 (die man treffender als „Finanzkrise im Westen“ bezeichnen sollte) die Volkswirtschaften des Westens erschütterte, ließ sich China unvernünftigerweise zu einem arroganten Auftreten hinreißen. Das kam das Land teuer zu stehen. Zum Zeitpunkt der Krise rund um die Bank Lehman Brothers wirkte es, als hinge das viel gerühmte amerikanische Finanzsystem in den Seilen. Chinas Führung war so unklug, sich abfällig über Amerika zu äußern. Zehn Jahre später hat sich Amerika wieder erholt. Wäre ich ein ranghoher Berater von Chinas Präsident Xi Jinping, würde ich Xi dringend ans Herz legen, Amerikas Stärken eher zu überschätzen als zu unterschätzen. Und würde man mich bitten, für Präsident Xi ein Memo über Amerikas große Stärken zu erstellen, würde dieses Schriftstück so aussehen:
Memo an den Genossen Xi Jinping: „Vorbereitung auf die große Auseinandersetzung mit Amerika“
1. Januar 2020
In 20 Jahren jährt sich zum 200. Mal der Jahrestag der erniedrigendsten Phase der chinesischen Geschichte. Wir, das chinesische Volk, wurden