Grundlagen der Funktionswerkstoffe für Studium und Praxis. Janko Auerswald
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Aber nur für eine einfache Stufenversetzung wie in Abb.2.13 gezeigt stimmen Bewegungsrichtung der Versetzungslinie und Sprungrichtung der Atome an der Versetzungslinie überein. Neben Versetzungssegmenten mit Stufencharakter gibt es auch Segmente mit Schraubencharakter (Abb. 2.14) oder gemischtem Charakter, wo sich die Atome bei der plastischen Verformung in eine andere Richtung bewegen als die Versetzungslinie, wenn diese über sie hinweggeht.
Abb. 2.13 Vereinfachtes Modell der plastischen Verformung durch Versetzungsgleiten: Wanderung einer Stufenversetzung durch einen Kristall. Die Versetzung kann dabei als eingeschobene Halbebene beschrieben werden, deren untere Begrenzung die Versetzungslinie ist, die in der Gleitebene liegt und sich dort weiterbewegt (hier: von links nach rechts). Diese Darstellung reicht für ein vereinfachtes Verständnis der plastischen Verformung in Metallen durch Versetzungsgleiten vollkommen aus.
Abb. 2.14 Bei einer Schraubenversetzung ist die Sprungrichtung der Atome (Burgersvektor) parallel zur Versetzungslinie, anders als bei einer Stufenversetzung. Die Schraubenversetzung spielt beim Ziehen nahezu perfekter Halbleiter-Einkristalle aus der Schmelze als Energiezentrum des Keimkristalls beim Kristallisationsprozess eine Rolle. Dazu wird der Keimkristall langsam aus der Schmelze gezogen und um die eigene Achse gedreht. Die Atome aus der hochreinen Schmelze lagern sich an die Schraubenversetzung wie an eine Wendeltreppe an.
Bei der plastischen Deformation von Kristallen werden fortlaufend neue Verset-zungen gebildet. Diese Versetzungsneubildung führt dazu, dass sich die Versetzungen immer stärker gegenseitig behindern, die Versetzungsbewegung immer schwieriger wird und schließlich ganz zum Stillstand kommt. Die Folge ist eine Verfestigung des Materials aufgrund von Kaltumformung. Anhand einer Analogie lässt sich das Phänomen erklären. Wenn in einem Raum wenig Personen vorhanden sind, so ist die Personenzirkulation einfach. Sind aber sehr viele Personen vorhanden, so ist die Zirkulation erschwert bzw. unmöglich.
2.5 Vertiefende Betrachtung der plastischen Verformung
AufmikroskopischerEbenebewegensichVersetzungenaufmöglichstdichtgepack-ten Ebenen in möglichst dicht gepackte Richtungen. Die Sprungweite eines Versetzungsschrittes (Burgersvektor) und damit die zum Gleiten benötigte Energie sind gering. Die Gleitrichtungen für vollständige Versetzungsschritte entsprechen in den dichtest gepackten Ebenen den dichtest gepackten Richtungen.
Ein tieferes Verständnis von Versetzungen und plastischer Kristallverformung erfordert ein profundes Wissen über Kristallstrukturen und ein gutes dreidimensionales Vorstellungsvermögen. Da sich Versetzungen als Ringe oder gebogene Linien auf einer Gleitebene im Kristall oder Korn ausbreiten, ist die Wanderungsrichtung der Versetzungslinie nur an bestimmten Stellen identisch mit der Sprungrichtung der Atome bei der plastischen Verformung - nämlich dort, wo die Versetzungslinie Stufencharakter hat. Besitzt das betrachtete Segment der Versetzungslinie Schraubenoder gemischten Charakter, ist dies nicht der Fall.
Diefolgende Abb.2.15 beschreibt die Entstehung und Ausbreitung einer Versetzung nach dem Frank-Reed-Mechanismus - allerdings aus Gründen der Vereinfachung in einem kubisch primitiven Gitter. Nur das radioaktive Element Polonium, von Marie Curie entdeckt, kristallisiert in dieser einfachen Gitterstruktur. Die meisten Metalle besitzen eine kfz, krz oder hdp Struktur. Für Verständniszwecke ist die folgende Betrachtung trotzdem ausreichend.
Die Versetzung breitet sich zwar kreisförmig in alle Richtungen auf der Gleitebene aus. Die Atome, über die die Versetzungslinie hinweggeht - egal in welche Richtung -, machen aber alle den gleichen Sprung in die gleiche Richtung des Burgersvektors (Gleitrichtung in der Gleitebene). Hat also ein Versetzungsring überall im Kristall die Korngrenzen erreicht, ist der Kristall auf dieser Ebene komplett um
Abb. 2.15 ► Tieferes Verständnis der plastischen Verformung durch Versetzungsgleiten. Entstehung (Frank-Reed-Quelle) und Ausbreitung von Versetzungen auf einer Gleitebene in einem Kristall unter einer SchubSpannung r. Versetzungen sind in Metallen nach der Kristallisation bereits in großer Zahl vorhanden. Unter Schubspannung wandern sie auf ihren Gleitebenen. Bleiben sie zwischen zwei Hindernissen hängen, z. B. an Fremdatomen, baucht sich die Versetzungslinie aus und krümmt sich unter der Schubspannung so stark, dass sie die Hindernisse komplett umschließt und einen Kreis bildet. Eine neue Versetzung entsteht dabei, während die alte Versetzungslinie zwischen den beiden Hindernissen durch Zusammenklappen der konkaven Segmente auf der Rückseite des sich neu bildenden Versetzungsrings wiederhergestellt wird. Wo der Burgersvektor, d. h. die Sprungrichtung der Atome(roter Pfeil), senkrecht auf der (blauen) Versetzungslinie steht, hat die Versetzung Stufencharakter (3-Uhr- und 9-Uhr-Position imBild). Woerparallelzur Versetzungslinie verläuft, hatsie Schraubencharakter (6-Uhr- und 12-Uhr-Position) und dazwischen gemischten Charakter. Zwischen den zwei Hindernissen bleibt das ursprüngliche Versetzungssegment zurück und der Mechanismus beginnt von Neuem, viele Tausende Male (Versetzungsmultiplikation). Die neu entstandenen Versetzungen breiten sich auf ihren Gleitebenen im Kristall wie konzentrische Wellen auf einer glatten Wasseroberfläche aus, bis sie auf die Korngrenzen oder auf die Werkstückoberfläche treffen. Dort treten die Versetzungen aus dem Kristall aus. Der Kristall hat sich dann um jeweils einen Atomabstand in Richtung des Burgersvektors plastisch verformt.
Abb. 2.16 Die zwölf Gleitsysteme im kfz Gitter. Es gibt vier Gleitebenen vom Typ {111}, rot markiert. In jeder Gleitebene existieren drei Gleitrichtungen vom Typ ⟨110⟩, blau markiert. Das ergibt zwölf Gleitsysteme vom Typ 1/2 ⟨110⟩ {111}. Die Atome an der Versetzungsfront springen dabei um die halbe Länge der Flächendiagonalen vom Typ ⟨110⟩, d. h. um einen Abstand direkt aneinandergrenzender Atome. Das Symbol 1 steht für minus 1.
einen Atomabstand in Richtung des Burgersvektors abgeglitten. So ist jede Versetzung eindeutig charakterisiert über ihre Gleitebene, ihren Burgersvektor und über die Sprungweite der Atome. Gleitebene und Burgersvektor einer Versetzung sowie die Linienrichtung und damit der Charakter (Stufe, Schraube, gemischt) eines Versetzungssegments lassen sich im Beugungskontrast eines Transmissionselektronenmikroskops (TEM) bestimmen. Die Lage der Atome lässt sich sogar direkt im Phasenkontrast des TEM betrachten.
Im kfz Gitter (Gold, Aluminium, Kupfer, γ-Eisen) gibt es zwölf Gleitsysteme auf vier Gleitebenen mit jeweils drei möglichen Gleitrichtungen (Abb. 2.16). Die Gleitsysteme sind vom Typ 1/2 ⟨110⟩{111}. Die Atome an der Versetzungslinie springen in dem Moment, in dem die Versetzungslinie über sie hinweggleitet, um die Hälfte einer Flächendiagonalen der kfz Elementarzelle in einer Richtung vom Typ ⟨110⟩, was einem Atomabstand im kfz Gitter in dieser dichtest gepackten Richtung entspricht, auf einer dichtest gepackten Ebene vom Typ {111}.
Im krz Gitter