Völkerrecht. Bernhard Kempen
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I. Enteignungsrecht im Fremdenrecht
Das → Fremdenrecht enthält im Wesentlichen die folgenden Regeln für eine Enteignung ausländischen Eigentums: Enteignungen ausländischen Eigentums sind grundsätzlich erlaubt. Das Recht der Staaten, Enteignungen vorzunehmen, ist Folge und Ausdruck der staatlichen → Souveränität. Allerdings müssen bei der Enteignung ausländischen Eigentums bestimmte Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen beachtet werden: Die Enteignung muss im öffentlichen Interesse sein, sie darf nicht diskriminieren und der enteignende Staat muss eine Entschädigung zahlen. Werden diese Anforderungen nicht eingehalten, ist die Enteignung rechtswidrig und stellt damit ein völkerrechtliches Delikt dar (→ Verantwortlichkeit, völkerrechtliche). Die Rechtsfolge ist dann die Pflicht zur Wiederherstellung des vor dem Delikt bestehenden Zustands oder – wenn dies nicht möglich ist – die Zahlung einer Entschädigung, die alle Folgen der Enteignung ausgleicht.
1. Enteignung
Der Tatbestand der Enteignung ist nicht klar definiert. Grundsätzlich ist anerkannt, dass sowohl direkte Enteignungen als auch indirekte Enteignungen erfasst werden. Das Iran – US Claims Tribunal charakterisierte den Tatbestand der indirekten Enteignung in Starrett Housing (para 154) wie folgt:
„[I]t is recognized in international law that measures taken by a State can interfere with property rights to such an extent that these rights are rendered so useless that they must be deemed to have been expropriated, even though the State does not purport to have expropriated them and the legal title to the property formally remains with the original owner.“
Wo genau die Grenze zu Eingriffen verläuft, die keine Enteignungen darstellen, hat im Fremdenrecht kaum praktische Bedeutung erlangt. Dies kann insbesondere damit erklärt werden, dass die Rechtsdurchsetzung hier den Staaten als → Völkerrechtssubjekte obliegt und dass diese bei Grenzfällen zurückhaltend agieren dürften.
2. Öffentliches Interesse und Diskriminierungsverbot
Die ersten beiden Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen – das Bestehen eines öffentlichen Interesses und das Diskriminierungsverbot (→ Gleichheitsprinzip) – haben nur wenig praktische Bedeutung erlangt. Bei der Bestimmung des öffentlichen Interesses wird den Staaten generell eine weite Einschätzungsprärogative zuerkannt. Trotz unterschiedlicher Behandlung von In- und Ausländern ist das Diskriminierungsverbot dann nicht verletzt, wenn die Regierung einen sachlichen Grund für diese Differenzierung hat. Auch bei der Bestimmung dieses Grundes steht dem Staat zumindest ein gewisser Spielraum zu.
3. Entschädigung
Die mit Abstand wichtigste und historisch umstrittenste Rechtmäßigkeitsvoraussetzung ist die Entschädigungspflicht, bzw. die Frage nach der Höhe der Entschädigung. Die jedenfalls bis zum Zweiten Weltkrieg vorherrschende Auffassung wurde 1937 von dem damaligen US-Außenminister Cordell Hull formuliert, der von Mexiko „prompt, adequate and effective compensation“ für die Enteignung amerikanischer Interessen in der mexikanischen Ölindustrie verlangte. Diese sog. Hull-Formel wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in Zweifel gezogen. Während die Industriestaaten auf den weiteren Fortbestand der Hull-Formel bestanden, bestritt die Mehrzahl der anderen Staaten die Gültigkeit dieser Formel. Keine Seite konnte sich in diesem Streit klar durchsetzen. Dies verdeutlichen zwei Entwicklungen:
Erstens wurde der Streit über die nach dem Zweiten Weltkrieg vorgenommenen, umfassenden Enteignungen im Wesentlichen durch Kompromisse in Form sog. Globalentschädigungsabkommen (lump sum agreements) beigelegt. In diesen Abkommen einigten sich der Heimatstaat und der die Enteignung vornehmende Staat auf eine pauschale Entschädigungssumme für sämtliche Eigentumsentziehungen. Je nach Abkommen wurden so zwischen 20% und 80% der jeweils geltend gemachten Gesamtsumme gezahlt. Mit diesem Kompromiss erkannte der enteignende Staat nicht die Pflicht zur Zahlung einer Entschädigung für eine konkrete Enteignung an; aber auch der Heimatstaat des Enteigneten gab nicht sein Recht auf Entschädigung auf. Die Verteilung der pauschal gezahlten Summe auf die einzelnen betroffenen Eigentümer und damit die Bestätigung des Vorliegens einer Enteignung, oblag dann der internen Verteilung durch den Heimatstaat. Beide Seiten konnten somit ihre jeweilige Rechtsansicht weiter vertreten, ohne sich vollständig durchgesetzt zu haben.
Zweitens wurde der Konflikt auf politischer Ebene im Wesentlichen in der → Generalversammlung der → Vereinten Nationen ausgetragen. Ein letzter Kompromiss wurde 1962 in der UN-Resolution 1803 erzielt, die die permanente Souveränität über Bodenschätze zum Gegenstand hatte. Nach dieser Resolution war im Fall einer Enteignung bzw. Nationalisierung eine „appropriate compensation […] in accordance with international law“ zu zahlen. Den Höhepunkt des Konfliktes stellte die 1974 verabschiedete Resolution 3281 dar, die eine Charter of Economic Rights and Duties of States enthielt. In dieser Resolution setzte sich die aus sozialistischen Staaten und Ländern der Dritten Welt bestehende Mehrheit gegen die Stimmen der Industrienationen durch. Nach der verabschiedeten Formulierung sollte im Falle einer Enteignung zwar eine unter Berücksichtigung aller Umstände angemessene Entschädigung gezahlt werden. Ein Streit hierüber sollte aber ausschließlich aufgrund des nationalen Rechts und vor den Gerichten des enteignenden Staates zu klären sein, solange die Staaten sich nicht auf eine andere Form der Streitbeilegung einigen würden. Das Bestehen einer völkerrechtlichen Entschädigungspflicht und die Hull-Formel als Grundlage für deren Berechnung wurden damit faktisch negiert.
Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Wirtschaftssysteme und der damit verbundenen Hinwendung zu einer weltweiten Liberalisierung, einschließlich der damit verbundenen Anerkennung der Bedeutung von privaten Eigentumsrechten, entspannte sich der Konflikt innerhalb der → Staatengemeinschaft jedoch deutlich. Gegenwärtig dürfte dementsprechend davon auszugehen sein, dass eine Pflicht zur Zahlung einer Entschädigung im Falle einer Enteignung weitgehend anerkannt ist. Der Streit um die Höhe der nach dem Gewohnheitsrecht zu zahlenden Entschädigung hat seine praktische Bedeutung verloren, da diese Frage in den mehr als 2.500 bis heute abgeschlossenen Investitionsförderungsverträgen