Robins Garten. Marc Späni
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Die Residenz war ein wuchtiger, dunkler Kasten aus den Anfängen des Kurtourismus Ende des 19. Jahrhunderts, auf mehreren Seiten durch unauffällige Neubauten erweitert. Ein halbes Einfamilienhaus, dessen andere Hälfte abgerissen und durch eine nackte, graue Wand ersetzt worden war, ragte wie eine Kriegsruine schräg hinter der Residenz auf.
Die Neuenburger Uhr im Zimmer des toten Erwin Gadze hatte bereits vier Mal geschlagen, als Florian Walpen aus dem Bus und in die Eingangshalle mit den marmornen Treppen trat. Vor rund einer Stunde hatte eine junge Ärztin den Toten gefunden, als sie ihn zur Ergotherapie abholen wollte. Der zugezogene Residenzarzt hatte eine halbe Stunde später den Tod festgestellt, und nun lag Erwin Gadze auf dem Bett, die Hände gefaltet, und auf dem Nachttisch brannte eine Kerze. Ein kurzer Moment des Friedens, bis der Leichenwagen den Weg zur Residenz geschafft hatte und den toten Körper im grauen Kunststoffsarg entsorgte.
Gleich bei Florians Ankunft im Kurhaus ging etwas schief. Statt Grossmutter Hallo zu sagen, seine Aufträge in Empfang zu nehmen und kurz darauf den düsteren Kasten wieder zu verlassen, folgte er, kaum angekommen, einem Freund und Mitbewohner der alten Dame, Herrn Eckert, durch lange Gänge mit schweren Teppichen zum Gewächshaus, wo dieser ihm seine Züchtungen zeigen wollte, sein kleines botanisches Reich, wie er es nannte. Grossmutter hatte er zwar gleich beim Empfang angetroffen, oberhalb der grossen Marmortreppe, im Gespräch mit Eckert und einem anderen älteren Herrn, aber sie schien von seiner verfrühten Ankunft ganz aus dem Konzept zu sein, entschuldigte sich in schlecht überspielter Aufregung, sie müsse sich noch frisch machen – sie trug einen dieser hässlichen Trainingsanzüge, wie man sie speziell für Leute über sechzig fabrizierte – und gab ihren Enkel in die Obhut des Pflanzenliebhabers. Sie hatte Florian bei einem seiner früheren Besuche dem Herrn einmal vorgestellt, aber er konnte sich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Überhaupt hatte am Empfang eine seltsame Stimmung geherrscht: Am Tresen stritt sich ein anderer Senior lautstark mit dem Verwalter. Es ging dabei, soviel konnte Florian aufschnappen, um Jagdaufsicht und eine Aufgabe des Försters, und der Verwalter sagte mehrmals etwas von geltendem Gesetz. Aber nicht genug: Kaum hatte Grossmutter sich einige Schritte entfernt, wurde sie von einer anderen alten Frau am Arm gepackt, die aus einem Seitengang gekommen sein musste. Jemand war tot, glaubte Florian zu hören, aber vielleicht täuschte er sich auch. Grossmutter schüttelte energisch den Kopf und riss sich los. Sie habe keine Zeit. Er würde sie später fragen, was los war.
Florian folgte also Herrn Eckert, der sich immer wieder umdrehte und ihn dies und das fragte, ins Gewächshaus am Ende des Flurs. Herr Eckert strahlte eine Aura von Tabakrauch und Sherry aus und erinnerte Florian an einen Englischlehrer aus einem früheren Jahrhundert. Von dem her passte er wunderbar in das Gewächshaus, das ebenfalls mindestens hundert Jahre alt zu sein schien. Unter den Glasscheiben, die sämtliche matt und undurchsichtig geworden waren, staute sich eine unangenehme, mit Blumenduft durchtränkte feuchte Schwüle. Grossmutter hatte Florian so überrumpelt, dass er gar nicht auf die Idee gekommen war, Einwendungen zu machen, und jetzt, wo ihn der alte Hobbygärtner schon in den hinteren Teil des Gewächshauses entführt hatte und ihm seine Sammlung von Wolfsmilchgewächsen zeigte, wäre es natürlich unhöflich gewesen, ihn stehen zu lassen, ohne seinen Schützlingen wenigstens einige Minuten Aufmerksamkeit zu widmen. Und es waren auch wirklich ganz schöne Pflanzen, das musste er zugeben, ausserdem hatte der Hobbybotaniker die Gabe, selbst über etwas so Langweiliges wie eine Pflanzenart ganz spannend zu erzählen. Er stellte seinem Besucher zuerst eine Sukkulente vor, die aus Madagaskar stammte und von diesem als Kaktus eingestuft wurde.
«Wolfsmilchgewächse sind eben keine Kakteen», meinte Eckert amüsiert, «sie gehören zu einer ganz eigenen Gruppe. Wussten Sie, dass es von den Wolfsmilchgewächsen 240 Gattungen und nicht weniger als 6000 Arten gibt?»
Florian fragte sich, wie jemand sich auf etwas wie Wolfsmilchgewächse spezialisieren konnte; schliesslich gab es so viele andere Blumen, die mindestens ebenso schön und vielleicht noch leichter zu züchten wären.
«Die hier», Eckert war schon einige Töpfe weiter, «enthält eine weissliche Milch, daher der Name der ganzen Familie. Ihre wissenschaftliche Bezeichnung ist Euphorbia, nach dem Hausarzt eines mauretanischen Königs.»
Florian nickte höflich.
«Aus einigen dieser Sukkulenten lässt sich ein Gift gewinnen, das von Völkern Zentralasiens für die Jagd und den Krieg verwendet wird.»
Da stand Florian nun in einem antiken Gewächshaus einer historischen Residenz für alte Leute und unterhielt sich mit einem Siebzigjährigen über Blumen! Er musste innerlich den Kopf schütteln. Nicht nur, dass er sich fragte, was das Ganze sollte. Irgendwie hatte es auch etwas Unheimliches: Ein alter Englischlehrer referierte über Pfeilgifte, in der hintersten Ecke eines unfreundlichen Gewächshauses, dessen rostige Türen sicher abgeschlossen waren und durch dessen Scheiben niemand einen Mord beobachten könnte, geschweige denn eine Leiche entdecken würde. Schon dieser penetrante Blumenduft, wie in einer Aufbahrungshalle. Und Herr Eckert erzählte und erzählte, eben noch von einer immergrünen aufrechten Stammsukkulenten von rund 70 Zentimetern Höhe, dann von der Blüte einer Merurialis annua. Florian blickte ab und zu verstohlen auf die Uhr. Die Wolfsmilchgewächse waren ihm mehr und mehr unsympathisch geworden. Als Herr Eckert endlich innehielt und vorschlug, auf der Terrasse bei einem Aperitif auf Grossmutter zu warten, war bereits mehr als eine halbe Stunde vergangen. Er ging mit seinem Gast aber nicht etwa auf dem direkten Weg zurück zum Wohnhaus, nein, Herr Eckert nahm Florian freundlich am Arm und führte ihn durch eine kleine Tür an der Rückseite des Gewächshauses ins Freie, eine Treppe hoch zu einem schmalen Pfad, der oberhalb des Gewächshauses zurück zur Terrasse der Residenz führte. Von diesem Weg aus konnte man zu einem Aussichtsturm hoch blicken, einer Konstruktion aus drei mächtigen Metallträgern mit vier Plattformen, von denen die oberste weit über den Sockel hinausragte. Durch die Ritzen zwischen den Brettern leuchtete die Sonne. Florian erinnerte der Turm an alte kolorierte Ansichtskarten aus dem 19. oder frühen 20. Jahrhundert, und aus dieser Zeit stammte der Bau wohl auch. Nur Treppen, kein Lift natürlich.
«Wollen wir noch die Aussicht geniessen?», schlug Herr Eckert vor. «Es ist wirklich lohnend.»
Aber darauf hatte Florian nun wirklich keine Lust, ausserdem hasste er nichts mehr als grosse Höhen, vor allem überhängende Plattformen, wo das Auge keinen Fixpunkt mehr fand. Nein, da lehnte er dankend ab.
«Man muss sich nur überwinden können», meinte Herr Eckert kurz, aber Florian erklärte ihm, er könne sich sehr wohl überwinden, wenn es einen wichtigen Grund dafür gäbe. Aber nur zum Spass da hinaufzuklettern, dafür sei er sich nun doch zu lieb. Das schien dem Alten zu gefallen, er klopfte ihm auf die Schulter und führte ihn weiter.
«Ja, ja, wichtig ist, dass man sich überwinden kann, wenn es die Pflicht erfordert, da haben Sie völlig Recht.»
Als sie auf die Terrasse kamen, begann er, über die Wichtigkeit der Familie zu reden, verlor aber den Faden. Ihnen bot sich eine herrliche Aussicht, weit über die Hügel der Voralpen in den noch schneebedeckten Alpstein. Sie fanden einen leeren Tisch an der schmiedeeisernen Brüstung. An den anderen Tischen sassen bereits Senioren, die meisten – das fiel Florian als Erstes auf – mit weissen Turnschuhen an den Füssen. Er war nicht unglücklich, dem unheimlichen Gewächshaus entkommen zu sein und hoffte, dass er nun bald seinen Auftrag bekam und sich wieder auf den Weg machen konnte. Aber Grossmutter wollte einfach nicht auftauchen, was auch dem alten Eckert unangenehm zu sein schien. Auch er sah immer wieder auf die Uhr und versuchte krampfhaft Konversation zu machen: «Wissen Sie», griff er nach einer längeren Pause das Thema wieder auf, das er auf dem Weg vom Turm hierher begonnen hatte, «die Familie mag in Ihrem Alter keine besondere Rolle spielen, aber später, wenn Sie vielleicht selber Kinder haben, werden Sie feststellen, dass sie einen ganz anderen Stellenwert