Robins Garten. Marc Späni
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Robins Garten - Marc Späni страница 4
«Es gibt keine Kultur, in der die Familie nicht eine absolut primäre Rolle spielt. Sie ist eine Grundkomponente der menschlichen Gesellschaft, ein Archetyp sozusagen, und steht damit über allen anderen Regeln des menschlichen Zusammenlebens.» So nett der alte Pflanzenfreund auch war, so legte er im Gespräch die sehr bemühende Eigenheit an den Tag, für alles die Bestätigung seines Gegenübers einzufordern: «Meinen Sie nicht auch, junger Freund?» «Da müssen Sie mir doch zustimmen, nicht?» «Sehen Sie das nicht ebenso?»
Florian bestätigte brav und sah vor seinem inneren Auge den Sekunden- und Minutenzeiger ticken und seine wertvolle Zeit unwiederbringlich davonrennen.
Endlich kam Grossmutter, nach über einer Stunde, frisch geduscht, in einer lachsfarbenen Bluse, eine Goldkette mit einem grossen Medaillon um den Hals, die braun gefärbten Haare säuberlich hochgesteckt. Als wäre sie nur zwei Minuten in ihrem Zimmer gewesen, reichte sie dem Enkel einen Zettel, auf dem sie von Hand einige Dinge notiert hatte, die er doch bitte für sie besorgen sollte: aus der Buchhandlung eine Einführung in die Moralpsychologie, aus dem Musikgeschäft eine CD mit entspannender, aber stilvoller Musik, einen unauffälligen Mehrfachstecker in dunkler Farbe – nichts, was sie sich auch über das Internet hätte in die Pension bestellen können, aber sie legte besonderen Wert darauf, dass Florian in den Geschäften einen Augenschein nahm und dann nach seinem Gutdünken entschied. Damit war das Thema abgeschlossen.
«Na, habt ihr zwei euch gut unterhalten?», fragte sie mit einem etwas aufgesetzten Lächeln, und bevor Florian etwas sagen konnte, bejahte Eckert enthusiastisch und begann aufzählen: «Wir haben über Selbstüberwindung, die Wichtigkeit der Familie und die Pflichten gegenüber Familienmitgliedern geredet.»
Hatten sie über Selbstüberwindung geredet? Ach ja, beim Turm, als sich Florian geweigert hatte hochzusteigen. Grossmutter schien zufrieden, und der Enkel hatte immer mehr das Gefühl, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Das Gespräch mit Eckert wirkte arrangiert, doch konnte er sich nicht vorstellen, zu welchem Zweck. Eine zweite Runde Appenzeller wurde bestellt. Und als Florian irgendwann signalisierte, dass er in absehbarer Zeit aufbrechen würde, meinte Grossmutter, das gehe nun wirklich nicht.
«Ich habe extra ein zusätzliches Gedeck bestellt, und es ist ganz ausgeschlossen, dass du schon wieder verschwindest, wenn du schon einmal hier bist. Auch Herr Eckert wäre herb enttäuscht!» Dieser bemühte sich ein ganz unglückliches Gesicht zu machen. Da war wohl nichts zu machen, unhöflich wollte Florian nicht sein. Der Besuch auf dem Fahrnihof bei Robin war also gestrichen, aber unterdessen war es ohnehin schon fast halb sechs, sodass er, auch wenn er sich in den nächsten zehn Minuten hätte losreissen können, direkt zurückgefahren wäre. Er hoffte, sie würden hier früh essen, wie in Spitälern und Altersheimen, schliesslich war die Residenz ja etwas Derartiges. Aber noch machte niemand Anstalten, sich in den Speisesaal zu begeben, und als Herr Eckert endlich aufstand, um sich seinerseits noch etwas frisch zu machen, trat sogleich ein anderer Senior an den Tisch und nahm seinen Platz ein.
«Herr Strahm», stellte Grossmutter vor, «war früher im Rahmen der grönländischen Bodenerschliessung tätig. Mein Enkel», wandte sie sich an den Ankömmling, «interessiert sich sehr für Schiffbau und den Norden.»
Strahm trug eine graugrüne Weste mit unzähligen kleineren und grösseren Taschen, wie man sie bei Förstern und Jägern sieht. Er war der zweite Mann gewesen, der bei Florians Ankunft mit Grossmutter geredet hatte.
«Schiffbau, Skandinavien, ein herrliches Hobby!» Er sagte es ohne jede Überraschung, als sei er über die Interessen Florians schon vorgängig informiert worden. Das machte diesen etwas stutzig. Sobald Strahm aber zu erzählen begann, von Bauprojekten, Schiffsreisen, heiklen Situationen, Stürmen, dem unbarmherzigen Klima im Norden, vergass Florian seinen Verdacht wieder. Er mochte den Alten, der etwas weniger gekünstelt wirkte als Eckert, voller Tatendrang steckte und ihm beim Erzählen verschmitzt in die Augen sah. Nach einer Weile kamen sie auf Versicherungen im Allgemeinen und Florians Job im Besonderen zu reden, wobei Strahm ein grosses Interesse zeigte, etwa dafür, wie ein so grosser Betrieb funktionierte, wie die Einstufungsentscheide zustande kamen, wie es mit der Datensicherheit aussehe. Natürlich hätte ihm Florian nicht in dieser Offenheit von den Sicherheitslücken erzählen dürfen, oder vom Passwort, das seit einigen Tagen offen auf dem Pult des Teamleiters lag, schliesslich wusste man nie, was passieren konnte, wenn so etwas an die Medien gelangte, aber er spürte schon die Wirkung der zwei Appenzeller auf nüchternen Magen.
«Das heisst», fasste Strahm interessiert zusammen, «Sie hätten eigentlich die Möglichkeit ins System einzugreifen?»
Florian grinste nur verlegen.
Der Alte lachte: «Und das hat Sie nie gereizt?»
«Sehen Sie, als Sachbearbeiter hat man immer nur mit einzelnen Berichten und Analysen zu tun, man hat keinen Einblick in die ganze Datenfülle, die dann in den Grossrechnern verarbeitet wird. Den Überblick über alle Berichte einzelner Objekte haben nur die Teamchefs.»
«Mit seinem Passwort hätten aber auch Sie Zugriff auf diese Daten», bemerkte Strahm, und Florian nickte vorsichtig. Dann kam der Grönland- und Bauexperte, ohne dass Florian der Zusammenhang klar wurde, auf den zivilen Ungehorsam im Indien der Kolonialzeit zu reden, fand dann nach einer Weile aber wieder zum Thema Versicherungen zurück und verwickelte den jungen Mann in eine Diskussion über Gerechtigkeit. Dieser musste ihm hier und da zustimmen. Es stimmte schon, dass die vielen kleinen Analysen und Einschätzungen an sich nicht für die Objektivität einer Einschätzung bürgen konnten, sogar eine gewisse Willkür kaschierten. So hatte Florian es noch nie gesehen, aber er musste Strahm ein Stück weit Recht geben. Der Alte hatte übrigens dieselbe unangenehme Eigenschaft wie Eckert, immer erst dann weiterzufahren, wenn der Gesprächspartner ihm die fraglichen Punkte explizit bestätigt hatte.
«Die Versicherungen vergessen eine wichtige Sache», meinte Strahm, «den natürlichen Hang des Menschen nach einem eigenen Stück Boden. Auch das ist ein urmenschlicher Trieb» – Urmenschliches und Archetypisches scheint das Lieblingsthema der Alten hier oben zu sein, dachte Florian –, «der Mensch geht sehr weit, wenn er Gefahr läuft, von seinem Land vertrieben zu werden.»
Zur Bestätigung seiner These wusste er eine ganze Reihe von Anekdoten aus seiner Arbeit als Bodenspekulant und Siedlungsplaner. Dann rückte er etwas näher zu Florian heran und begann mit gedämpfter Stimme von der Jagd zu erzählen, auch diese ein Urbedürfnis des Menschen, zu dem sich aber heute kaum mehr jemand bekennen wolle. «Was halten Sie davon?», wollte er wissen.
«Christophe, lass das doch jetzt, bitte!», unterbrach ihn Grossmutter, sichtlich verärgert.
Aber dieser liess sich nicht beirren. «Sehen Sie», meinte er und wies mit der Hand triumphierend auf Grossmutter, «niemand bekennt sich mehr dazu, dabei steckt der Jagdtrieb, der Drang nach Blut, in jedem von uns.»
«Nicht in mir», unterbrach ihn Grossmutter energisch. Sie schaute auf die Uhr und bestimmte, dass man sich in den Speisesaal zu begeben habe.
Bereits zehn vor sechs, dachte Florian, er würde sich nicht vor sieben Uhr verabschieden können, ohne unhöflich zu sein. Das bedeutete, um erst halb neun zu Hause zu sein, ein Abend, mit dem man nicht mehr viel anfangen konnte.
Strahm war noch kurz aufs Zimmer gegangen, Grossmutter führte Florian durch einen weiteren düsteren Gang mit hässlichen alten Gemälden Richtung Speisesaal. Auf dem kurzen Weg musste sie nicht weniger als vier Mal stehen bleiben, um dem Enkel