Robins Garten. Marc Späni
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Das alte Kurhaus, dessen Bedeutung nach dem Krieg konstant zurückgegangen war, hatte jahrelang leer gestanden. Private Interessenten hatten sich nach einer seriösen Kostenrechnung zurückgezogen, und nachdem auch die Gemeinde, die eine Zeit lang an einem Kauf interessiert gewesen war, aus Kostengründen abgesagt hatte, wurde das Haus von einer Gruppe sehr wohlhabender älterer Leute gekauft, für Unsummen restauriert und in eine luxuriöse Altersresidenz umfunktioniert. Die Vorgaben des Heimatschutzes waren derart streng, dass das Kurhaus zwar alle Annehmlichkeiten des modernen Seniorenlebens bot, aber nach wie vor der hässliche, efeubewachsene Backsteinkasten mit düsteren, langen Gängen blieb, der er vor der Sanierung gewesen war und in nichts dem prunkvollen, hellen Kurpalast glich, der es – wollte man alten Ansichtskarten glauben – hundert Jahre früher gewesen war. Florians Grossmutter gehörte nicht zu den Wohlhabenden, war aber im Besitz des Grundstücks gewesen, auf dem die Käufer einige Erweiterungsbauten, unter anderem das Schwimmbad und die Wellnessanlage, geplant hatten. Das hatte zur Folge, dass Grossmutters Haus, in dem Florian einen Grossteil seiner Jugend verbracht hatte, abgerissen wurde und Grossmutter selber in die Residenz einzog, wo sie lebenslanges Wohnrecht genoss. Etwas unschön an der Sache war nur, dass ihr Haus Teil eines Doppeleinfamilienhauses war, das beim Umbau der Residenz mittendurch getrennt werden musste. Die Familie Wettlinger, die den anderen Teil bewohnte, musste sich wohl oder übel damit abfinden, von da an in einem halben Haus zu leben, dessen vierte Seite für sie unzugänglich war, weil das Grundstück der Residenz mit einem hohen Maschendrahtzaun gegen Eindringlinge abgeriegelt wurde.
Grossmutter zeigte sich zufrieden über den Wissensstand des Enkels, und sie gingen einige Schritte weiter, bevor sie ihm erneut den Weg versperrte, um ihn im Flüsterton über die prekäre finanzielle Situation einiger Bewohner aufzuklären: «Alt sein ist teuer, viele haben in den Börsenwirren der letzten Jahrzehnte bedeutende Teile ihres Vermögens eingebüsst. Stell dir vor, sie müssten die Residenz aufgeben, in ihrem Alter! So etwas nur zu denken, ist beschämend, findest du nicht?»
Florian nickte, um sich damit wieder einige Meter Richtung Speisesaal zu verdienen. Als sie nach drei Schritten erneut stehenblieb, spürte er, wie in ihm ein innerer Drang überhand nahm, sie vor sich her in den Speisesaal zu schieben, um endlich dort anzukommen.
«Bevor wir hier reingehen, muss ich dir noch etwas Letztes sagen, Florian.» Sie schien seine Unruhe bemerkt zu haben. «Hier in der Residenz denken nicht alle gleich gut von dir, ich meine von deinem Beruf.»
Florian runzelte die Stirn: Was sollte das nun wieder?
«Du stammst doch von hier, und dass du nun für die Versicherung arbeitest, das betrachten viele fast als Verrat.»
Das verstand er nicht, er musste ja etwas arbeiten, und er tat den Leuten ja nichts zuleide!
Sie winkte ab: «Die Auf- und Abstufung ist eben ein heikler Prozess, das betrifft die Leute ganz direkt, und da ist ein Vertreter der Versicherung natürlich schon eine kleine Provokation.»
Er wusste nicht, dass dem Grundstück eine Umstufung drohte und wollte auch nicht Geschäftliches mit dem Familienbesuch mischen.
Die zweiflüglige Tür war schon in Reichweiter, als sich Grossmutter ein letztes Mal vor ihm aufstellte. Mit ihrem faltigen Hals kam sie ihm vor wie ein übergrosser, aufgeplusterter Truthahn: «Im Alter verändert sich vieles, man wird angreifbarer, verletzlicher.»
Er konnte die Augen nicht von ihrem faltigen Hals nehmen.
«Viele hier haben grosse Angst wegen der Überfälle.»
Florian nickte. Er hatte gehört, dass in der nahegelegenen Zone mehrfach Häuser überfallen worden waren.
«Was wäre, wenn das uns passiert? Wir sind alt und wehrlos.»
Wehrlos wirkte sie nun doch nicht. «Und die Polizei?»
«Ach, Florian, du weisst, hier draussen kommen die doch immer erst, wenn alles vorbei ist.» Damit war auch dieses Thema erledigt, und sie liess ihn endlich in den Speisesaal. Er hatte wieder dieses ungute Gefühl, dass die alte Dame ein Spiel spielte, in dem sie Eckert, Strahm und vor allem ihrem Enkel eine Rolle zugewiesen hatte, es war ihm nur nicht klar, welche. Aber vielleicht war es auch nur die Wirkung des Alkohols, die er unangenehm spürte.
Mit seiner Stoffhose und der beigen Jacke kam er sich im Speisesaal völlig deplatziert vor. Wenn der Saal auch nicht sonderlich festlich schien, mehr an eine Betriebsmensa erinnerte, hatten alle Alten doch grosse Sorgfalt auf ihre Kleidung verwendet. Die Frauen trugen Blusen, Deuxpièces, die Herren Hemd und Veston, sogar die weissen Sportschuhe strahlten eine gewisse Eleganz aus. Vielleicht lag es auch am Alter der Leute oder an der Tatsache, dass man ihn beim Vorbeigehen von allen Tischen verstohlen musterte: Er fühlte sich äusserst unbehaglich. Warum hatte Grossmutter ihn so lange aufhalten müssen, dass sie jetzt fast als Letzte den Saal betraten? Von einem Tisch drang leises Murmeln herüber. Beim näheren Hinhören glaubte er Tischgebete zu hören. Mein Gott, wo war er da gelandet?
«Das sind die Religiösen», erklärte Grossmutter, die seinen fragenden Blick beobachtet hatte. «Wir haben im Haus zwei Fraktionen, die Religiösen und wir. Die haben ihre eigene Kapelle eingerichtet und sind allesamt etwas sonderbar, aber alles in allem harmlos. Am Anfang waren sie noch ganz normal, das hat sich erst in den letzten Jahren verschlimmert.»
Florian war ganz froh, als der fröhliche Strahm auf ihren Tisch zusteuerte, immer noch in seiner Försterkleidung, und sich dazusetzte, als gehörte er zur Familie. Weiter hinten im Saal sass ein anderer Mann in einer ähnlichen Kleidung wie der grönländische Bodenspekulant. Es war der Mann, der sich beim Empfang mit dem Verwalter gestritten hatte. Florian fragte Grossmutter, was am Empfang los gewesen sei, und sie meinte, mit Blick auf Herrn Strahm, er und Herr Kuonen dort drüben wollten einen Jagdverein aufziehen.
«Eine wertvolle Freizeitbeschäftigung», warf Strahm ein.
Aber natürlich, fuhr Grossmutter unbeirrt fort, sei das nicht möglich mit den geltenden Waffengesetzen, Forstgesetzen und überhaupt allen möglichen Gesetzen.
«… die restlos alles einschränken, was man früher problemlos zu seinem Vergnügen und zur Jungerhaltung hatte machen können, restlos alles!»
Grossmutter ging nicht darauf ein, zudem kam die Suppe. In der Folge redete man über dies und das, lockerer, entspannter, auch Grossmutter lachte einige Male lauthals, fing sich aber sofort wieder, als ob es ihr peinlich wäre. Das Essen war exquisit, und der Wein, von dem man ihm fast nach jedem Schluck nachschenkte, versetzte ihn immer tiefer in eine wohlige Schwere. Zwischen Vorspeise und Hauptgang – kühle Ingwer-Suppe, Lammcarrée mit Saisongemüse und Eiernudeln an einer Zitronensauce – kam die alte Frau an ihren Tisch, die Florian ebenfalls beim Empfang gesehen hatte, in einem grässlichen Blumenkleid, und begann halb flüsternd vom Tod eines Mitbewohners zu erzählen – er hatte also doch richtig gehört – und dass dieser gewünscht habe, Grossmutter würde sich um den Nachlass kümmern, man habe eine entsprechende Verfügung in seinem Zimmer gefunden. Grossmutter gab sich abweisend, murmelte ein unfreundliches «Meinetwegen». Als die Alte mit dem Blumenrock sich wieder entfernte, meinte sie abschätzig: «Miriam Caflisch. Eine von den Religiösen», als sei damit alles klar.
Florian entschied sich, das nicht als Seitenhieb auf seine Mutter aufzufassen, die zur Zeit wohl in ihrer Klausur fastete oder betete. Er liess sich durch die Gespräche treiben, lachte manchmal lauter, als er beabsichtige, und hatte beinahe schon seinen Verdacht vergessen, dass etwas mit der ganzen Einladung nicht stimmte.