Reise Know-How ReiseSplitter: Im Schatten – Mit dem Buschtaxi durch Westafrika. Thomas Bering
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Tétouans gute Stube: Pflasterornamente an der Place Feddan, im Hintergrund Teile der Medina
Spätestens in Tétouan habe ich Europa hinter mir gelassen. Die verwinkelten Gassen der Medina sind vollgestopft mit Menschen. Viele Männer tragen die Djellaba, den traditionellen Kapuzenmantel der Berber. Geschäftstüchtige Händler rufen Passanten im Souk ihre Angebote zu. Der männliche Teil der Bürger bevölkert Tee trinkend die Cafés und der Muezzin versucht sich Gehör zu verschaffen – hier besteht kein Zweifel mehr, dass diese Stadt eine nordafrikanische ist, der Maghreb erreicht ist.
„Es riecht so gut! Pass auf, dass du nicht geschnappt wirst, sie sind nämlich hinter dir her, du alter Kiffer!“, war in den 1980ern Nina Hagens fürsorglicher Rat. Nun ja, ernste Sorgen muss sich diesbezüglich in Chefchaouen, nur knapp siebzig Kilometer südlich von Tétouan, wohl niemand machen. „Legalize it“ ist Alltag. Schon allein diese Tatsache sichert der malerischen Kleinstadt im Rif-Gebirge einen beständigen Besucherstrom. Tatsächlich riecht es oft sehr würzig. Selbst den öffentlichen Gebrauch des Stoffes im Teehaus – obwohl haram (nach islamischem Glauben verboten) – scheut der rebellische Rif-Berber nicht. Angeblich ist der König der größte Landbesitzer in der Region. Ein Schelm, wer bei der Vielzahl der Anbauflächen Böses denkt! Doch auch dies ist ein Gerücht, das sich nicht überprüfen lässt. Denn eigentlich ist Mohammed VI., kurz M6, ja ein Guter, wie ich erfahre. Sein Volk liebt den omnipräsenten Monarchen jedenfalls. Aber zu M6 später mehr.
Winterlicher Nachmittagsplausch
Verlieren kann sich der Fremde in „Chaouen“, wie die Einheimischen ihre Stadt nennen, nicht nur beim Genuss weicher Drogen, sondern auch in den Gassen der Medina. Und das stocknüchtern. Offensichtlich sind auch die Stadtplaner Fans des allgegenwärtigen Krauts. Als hätte eine wildgewordene Horde Sechsjähriger ihre King-Size-Packung Bauklötze ausgeschüttet und die kreuz und quer durcheinander liegenden Blöcke anschließend durch Gassen, Tunnel und Treppen miteinander verbunden. Dieser chaotische Häuserhaufen liegt pittoresk an einem steilen Berghang. Hier und da, meist nach hunderten von schweißtreibenden Treppenstufen bergan, finde ich mich in heimtückischen Sackgassen wieder und verfluche die scheinbar tollwütigen Bauherren. All diese wahllos übereinander liegenden Kuben wurden in der Farbe der Weisheit, der Zufriedenheit und Harmonie – also blau – getüncht. Das beruhigt. Sicherlich damit die in diesem Labyrinth seit Stunden Suchenden nicht komplett durchdrehen. Aber diese unterschiedlichen Blautöne schaffen im Häuser- und Treppengewirr tatsächlich eine ganz eigene, melancholische Stimmung. Bezaubernd! Vorausgesetzt man hat kein festes Ziel.
Schulkinder vor der Snack- und Spielwarenauslage an einer Hauswand
Selbst hier oben in Chaouen, weit im Norden Marokkos, sind viele Händler aus dem südlicheren Afrika fleißig. Haratin oder Zugereiste? Haratin, die „Freien zweiter Klasse“, nennen Marokkaner die Nachfahren der „schwarzafrikanischen“ Sklaven, die über Jahrhunderte ins Land verschleppt wurden. Marokko braucht manchmal etwas länger. Erst in den 1960er-Jahren verschwand die Sklaverei in Marokko nach und nach. Die Haratin waren es jedoch gewohnt zu schuften und manche brachten es nach ihrer Befreiung schnell zu bescheidenem Wohlstand. Gewöhnlich weiß kein Haratin, woher seine Ahnen stammen. Der Weg zurück ins südliche Afrika blieb somit für immer versperrt. Die neuen Herren hatten ihre Sklaven bewusst voneinander getrennt. So waren die Haratin gezwungen, die Sprache ihrer neuen Heimat zu lernen. Nur in der Gnaoua, einer mystischen Bruderschaft, die den Islam mit Elementen subsaharischer Riten verbindet, ist es den ehemaligen Sklaven mit unterschiedlichen Muttersprachen gelungen, neue Gemeinsamkeiten zu schaffen.
FEELING BLUE: UNTERWEGS IM GASSENLABYRINTH
CHEFCHAOUEN/MAROKKO
Durch Beobachtung von Sonnenstand, Windrichtung und GPS-Daten finde ich im zartblauen Durcheinander von Treppen, Gassen und Tunneln tatsächlich irgendwann den Heimweg zu meiner Unterkunft. Mohamed, der Hüter meiner bescheidenen Behausung im andalusischen Stil, die filigrane Schnitzereien, üppige Mosaiken und eine kühle Brunnenoase im Innenhof bietet, erzählt mir, dass M6 sehr wohlwollend mit der derzeitigen Fluchtwelle umgehe. Seit ewigen Zeiten mit menschlichen Wanderungsbewegungen vertraut und über Jahrhunderte vom Karawanenhandel abhängig, gewährt der König den 50.000 Subsahara-Afrikanern im Land relativ umstandslos Arbeitsvisa mit bis zu fünf Jahren Gültigkeit. Schließlich kam die ethnische Mehrheit der Marokkaner, die auch das Königshaus stellt, selbst vor langer Zeit von der arabischen Halbinsel. Heute arbeiten Menschen aus Sierra Leone, dem Senegal, Guinea-Bissau und von der Elfenbeinküste in den Souks. Als Fischer oder Straßenhändler, oft als Kellner, wahrscheinlich nicht gerade zu Spitzenlöhnen. Aber auch Ingenieure und Ärzte kommen bisweilen. Denn Marokko blickt auf eine lange Geschichte der Migration zurück und ist für afrikanische Verhältnisse heute wohlhabend. Definitiv kein „Shithole-Country“. In Marokko blühten Kunst, Kultur und Architektur schon mehr als 400 Jahre vor der Entdeckung Amerikas.
Dieser bescheidene Wohlstand ist einer der Gründe für die Beliebtheit der marokkanischen Dynastie und die Verehrung von M6. Das marokkanische Königshaus legt traditionell großen Wert auf Bildung. M6 sorgte nach Jahrhunderten endlich für die Gleichstellung der Berber, Tamazight – die Sprache der Berber – wurde 2011 zur Amtssprache erhoben. Trotzdem gibt es Verfassungsartikel, die dem König unumschränkte Macht garantieren. Aus demokratischem Blickwinkel ist M6 also ein Despot. Staatsrechtler sprechen von einem „Hybridregime“ aus demokratischen und autoritären Elementen. Offensichtlich liegt M6 aber viel an der Bekämpfung von Armut, Analphabetismus und Korruption. Er erließ ein Familienrecht, das Frauen vor dem Gesetz zu hundert Prozent gleichberechtigt. Das steht in einer patriarchalischen Gesellschaft zunächst zwar nur auf dem Papier – aber irgendwo muss man ja wohl mal anfangen.
M6 tanzte im Kreise der arabischen Despoten deutlich aus der Reihe, als er in der fortschrittlichen Verfassungsreform von 2011 freiwillig Macht abgab und sich im Arabischen Frühling an die Spitze der marokkanischen Bewegung setzte. Seitdem gedeiht die Pressefreiheit zumindest als zartes Pflänzchen, Demonstrationen sind möglich. Kritik am Königshaus verbietet sich selbstverständlich weiterhin. Immer noch sitzen Bürgerrechtler und Blogger in Haft. Irgendwo muss ja auch mal Schluss sein mit dem demokratischen Firlefanz. Bereits in Marokko zeigt sich, dass es offenbar ein Drahtseilakt ist, nach Jahrhunderten mit archaischen Herrschaftsformen aus dem Stand eine erfolgreiche, moderne Gesellschaft zu etablieren. Ich kann verstehen, dass sich der Monarch hier ein letztes Wort vorbehält. Zumindest bis eine Gesellschaft entstanden ist, die auf der Basis eines guten Bildungsniveaus in der Lage ist, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Undemokratisch? Vermutlich, mir scheint es jedoch ein gutes Zeichen zu sein, dass M6 von den Marokkanern geliebt und im Gegensatz zu seinem Vater Hassan nicht gefürchtet wird. Mag sein, dass ich hier falsch liege, weil die Kritiker sich nicht aus der Deckung wagen. Doch eins darf man bei allem Wohlwollen für M6 nicht vergessen: Wie ergeht es einem Volk, wenn aus einem „guten“ König ein „böser“ wird oder ein solcher auf ihn folgt?
Das Porträt seiner Majestät gehört natürlich deutlich sichtbar in