Systemische Erlebnispädagogik. Группа авторов
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Systemische Erlebnispädagogik - Группа авторов страница 8
Ein weiterer Aspekt, der mir anhand deines Beispiels zur Prozessorientierung in den Sinn kommt, ist das Prinzip der Autopoiese. Dieser Begriff aus der Erkenntnistheorie wurde von der Systemtheorie adaptiert und beschreibt die selbstorganisatorischen Kräfte in Systemen. Ihr habt der Gruppe grundsätzlich einmal Vertrauen entgegengebracht und sie machen lassen. Dadurch, dass ihr nicht interveniert habt, konnten sie sich als Wüsten-Tausendfüßler so lange aushalten, bis sich so etwas durchgesetzt hat wie ein „Sinn für Sinnhaftigkeit“. Dennoch kann man diese Erfahrung ja nicht als sinnlos bezeichnen, denn sie hat – wie du ja auch schreibst – die Begegnung mit Schattenaspekten ermöglicht. Das war offenbar ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Ziel. Würde man sich in der Leitung nur auf drei oder vier Wege beschränken, die man in Bezug auf diese Aufgabe für richtig hält, dann könnte es sein, dass man ihren Sinn nicht erfasst. So gesehen öffnet Prozessorientierung immer wieder Räume für Unerwartetes und vor allem für Lernen – sowohl für die Leitung als auch für die Teilnehmer.
Robert: Für mich ist Prozessorientierung im Grunde ein Anteil der Haltung und setzt eine für Phänomene offene Wahrnehmung voraus. Das gelingt nur, wenn in mir ein neugieriges Fragezeichen angeschaltet ist, manchmal sogar vom Kontext unabhängig. So als ob die Vergangenheit und die Zukunft des „prozessierenden“ Systems undeutlich verschwimmen. In diesen Momenten der Gegenwart nehme ich Auffälligkeiten im besten Fall erst einmal wertneutral wahr, soweit das überhaupt möglich ist. Glücklicherweise gibt es einen Auftrag und damit auch mindestens ein Ziel, die dem System, inklusive der Leitung, Orientierung bieten. An diesem roten Faden spielt sich der differenzierte Umgang mit neuen Informationen ab. „Was nehme ich wahr?“ und dann „Was hat das mit dem Auftrag bzw. Ziel zu tun?“. „Welche Hypothese war entscheidend für die Methodenwahl?“ und „Was verändert es jetzt im System?“. „Welche Lösung liegt in der Luft?“ und „Interveniere ich aktiv oder passiv?“.
Im Krpg-Globo steht die Prozessorientierung ja im Feld der „weichen Wirklichkeiten“, zwischen Menschenbild und Haltung einerseits und Handlungs- und Lösungsorientierung andererseits. Die Interventionsformen sinnvoll anzuwenden, setzt die Fähigkeit voraus, sich am Prozess zu orientieren. Diese nährt sich unter anderem aus einer klaren Haltung und einer geschulten Wahrnehmung. Darin liegt für mich der Unterschied zwischen Methoden „kennen“ und „können“. Wie schnell ist der Wüstenstaub nur aufgewirbelt …
Susanne: Aus deinen Ausführungen ergeben sich für mich zwei weitere Ansatzpunkte zur Prozessorientierung. Du sprichst die Phänomene an, die für die Prozessgestaltung entscheidend sind. Gab es in der Geschichte, die du erzählt hast, solche Phänomene? Oder anders gefragt: Hat die Natur mit einer ihrer Interventionen auf das Geschehen reagiert? Vielleicht fällt dir ja auch noch ein Beispiel ein, in dem Phänomene den weiteren Prozessverlauf bestimmt haben.
Und dann sprichst du von aktiven und passiven Interventionen. Um zu verstehen, wie man passiv intervenieren kann, braucht es sicher systemisches Grundverständnis. Vielleicht kann man sich aber auch an deinem Beispiel orientieren. Die bloße Präsenz der beiden Leitungspersonen in der Nähe des Gruppengeschehens und auch das, was sie nicht aussprechen oder tun, wirkt sich auf den Prozess aus. Ist es das, was du damit meinst?
Robert: Als Zuschauer und Zuhörer danebenzusitzen, war in gewisser Weise eine Intervention. Wir hatten eine Absicht und waren bei der Sache. Also waren wir auch aktiv, aber eben nicht im gewohnten Sinne einer Intervention. Damit wird meistens ein direktes Eingreifen in den Prozess verbunden. Wir hingegen wirkten für die Außenwelt recht passiv – deshalb die von mir vorgenommene Unterscheidung zwischen aktiv und passiv, was auch einen Link zur systemischen Haltung herstellen soll. Die Leitung ist in diesem Verständnis immer Teil des Systems und beeinflusst allein schon durch ihre Zeugenschaft und Beobachtung.
Deine Frage nach einem prozessbestimmenden Phänomen löst in mir Ungläubigkeit und Verunsicherung aus. Es fällt mir nicht ein einziges Beispiel ein. Natürlich haben die Teilnehmer nach ihrem später folgenden Solo so einiges erzählt, was ich dem Feld der Phänomene zuschreiben würde: wenn Felsformationen zu Gestalten und Gesichtern werden oder merkwürdige Tierbegegnungen geschehen, die dann vom Protagonisten in seine Geschichte und sein Thema metaphorisch eingebaut werden, dann beeinflusst dies zumindest den persönlichen Prozess der Teilnehmer. Aber eine Situation, in der wir als Leitung uns von Phänomenen führen ließen?
Vielleicht rührt meine Beispiellosigkeit daher, dass der Begriff Phänomen so ein großes Wort ist und ich die kleinen Hinweise an unserem „Wegrand“ zwar als nützlich angenommen habe, aber nicht den Begriff Phänomen verwenden will, weil es im Allgemeinen zu spektakulär klingen könnte. Vielleicht kann man in diesem Kontext „Auffälligkeiten“ im weitesten Sinn auch dem Begriff Phänomen zuordnen, aber darüber gibt es ja einen anderen Beitrag in diesem Buch.
Tatsächlich erlebten wir eine partielle Sonnenfinsternis gleich zu Beginn unseres Wüstentrekkings. Wir wussten vorher davon, aber nicht, dass der Moment unseres Aufbruchs der gleiche wie jener der Finsternis sein würde. Dieses scheinbar „klassische“ Phänomen hatte aber mit unserem Prozess nichts zu tun. Auf dieser Ebene ist einfach nichts in Resonanz getreten und so haben wir auch nicht versucht, irgendetwas hineinzuinterpretieren. Es war einfach ein beeindruckendes Naturschauspiel, welches die Teilnehmer allenfalls für eine phänomenologisch achtsame Wahrnehmung (im oben erwähnten Sinne) sensibilisierte.
Da fällt mir ein, dass du mir einmal vom Leben und den Überlebensstrategien der noch heute existierenden Naskapi-Indianer erzählt hast. Ich habe in Erinnerung, dass sich diese Menschen an ihren Träumen orientieren, um an ausreichend Lebensmittel zu gelangen. Wie dogmatisch übersetzen sie die geträumten Bilder in ihre Tagesrealität? Was glaubst du, würde ein Naskapi unter Prozessorientierung verstehen?
Susanne: Schön, dass du dieses Beispiel ansprichst. Ich habe tatsächlich gerade heute an die Naskapi gedacht, weil ich in einem Seminar über Traumdeutung von ihnen erzählen möchte. Es handelt sich um einen Indianerstamm im Nordosten Kanadas, der über viele Jahrhunderte unter sehr unwirtlichen Bedingungen auf der Labrador-Halbinsel überlebt hat. Ihre Überlebensstrategie war – und das könnte man vermutlich von vielen Naturvölkern behaupten – völlige Prozessorientierung.
Sie pflegten eine innige Beziehung zu ihrem Mista‘peo, was man mit „großer innerer Mensch“ übersetzen könnte. Er sprach durch Träume oder Ereignisse in der Natur und konnte durch die Trommel, durch Lieder oder Tanz gerufen werden. Mista‘peo war nicht irgendeine abstrakte Idee, sondern eine vitale innere Instanz, die für ihr Überleben von größter Bedeutung war. Im Winter waren die Lebensumstände der Naskapi besonders hart. Die Temperaturen waren extrem streng, die Landschaft unwegsam und die
Karibu-Herden nicht immer in der Nähe. Wenn sie nicht mehr weiterwussten, riefen sie Mista‘peo mit der Trommel oder baten um einen Traum. Tatsächlich gibt es viele eindrückliche Beispiele dafür, wie wirksam dieser Dialog mit dem großen inneren Menschen sein kann und wie konkret und unmittelbar sie die Hinweise befolgten,