About Shame. Laura Späth
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Annie Ernaux schreibt: »Nur weil man die eigene Scham versteht, kann man sie noch lange nicht überwinden.«7 Und ich glaube, sie hat recht damit. In den Schmerz reinzugehen, heißt nicht, dass er erträglicher wird. Und ich suche mir immer wieder Auswege, um bestimmten Erinnerungen nicht gegenübertreten zu müssen.
Meine Scham soll nicht gänzlich verschwinden, deshalb will ich ihr begegnen. Ich will die Distanz zwischen mir und meinem vergangenen Ich verringern, sie abschreiten. Dafür muss ich an die Schammomente ran, auf denen die Distanz beruht. Versuchen, noch mal zurückzugehen in die eigene Jugend, auch wenn ich manchmal glaube, dass das unmöglich alles passiert sein kann, dass ich unmöglich so empfunden haben kann, dass nie im Leben ich diejenige war, die diese Tagebucheinträge geschrieben hat. So groß ist die Distanz zum eigenen Selbst geworden.
Als ich vor einem Bekannten zugebe, dass ich wahnsinnig gerne irgendwann meine Autobiografie schreiben würde, erwidert er: »Für eine Autobiografie muss man was erlebt haben.« Vermutlich meint er damit nicht einfach nur, dass man irgendetwas erlebt haben muss, sondern dass man etwas Besonderes erlebt haben muss. Was auch immer das dann sei.
»Stimmt«, denke ich, und bin entmutigt. Ich habe nichts erlebt. Schon gar nichts Besonderes. Ich habe genau das erlebt, was tagtäglich zig Menschen irgendwo erleben, und darüber öffentlich zu schreiben lohnt sich nicht. Und ich fürchte an diesem Abend auch, nicht gelebt zu haben. Nichts mehr erzählen zu können, keine Geschichte mehr zu besitzen. Aber die Scham belehrt mich eines Besseren – und deshalb will ich meine Geschichte entlang der Scham erzählen, des Schamerlebens. Denn vielleicht sollte man ja dem Alltäglichen mehr Aufmerksamkeit widmen, den Randgestalten, dem Beiläufigen, den wiederkehrenden Ängsten und Gedanken und den sich immer wiederholenden Mustern.
Georges Perec: »Schreiben: peinlich genau versuchen, etwas überleben zu lassen: der Leere, die sich hält, einige deutliche Fetzen entreißen, irgendwo eine Furche, eine Spur, ein Merkmal oder ein paar Zeichen hinterlassen.«8
AUnter anderem Richard Wollheim, Sighard Neckel, Caroline Bohn und Achim Geisenhanslüke, die im Laufe des Buches noch stärker zu Wort kommen werden, aber auch Klassiker der Soziologie wie Georg Simmel oder Norbert Elias.
Kapitel Zwei
KEIMEN
Sei wie alle, dann bist du sicher vor dem Ausschluss aus dem Rudel.
Benehme dich ordentlich, normal, unauffällig, zahl deine Steuern,
wasch deine Gardinen, sonst wird der Mob dich erschlagen mit
Fackeln in der Hand. Wenn es schon keine neue Welt gibt nach dem
schweren Jahr, dann kann man wenigstens klein beginnen – streichen
wir das Wort »normal« aus unserem Wortschatz, es hat schon so oft
zur Vernichtung, zu Hass und Krieg geführt.
SIBYLLE BERG
Raum einnehmen: Ich wachse. Mein Körper wird größer. Ich lerne zu sitzen, zu stehen, zu gehen, zu sprechen.
In meiner Familie bin ich das jüngste Kind, das sich darüber im Klaren ist, dass alle ihm Vorgaben machen dürfen. Wobei das trotzdem nie heißt, keine Wahl zu haben. »Zu folgen« ist zunächst nicht mein Ding. Ich bin relativ schnell der Überzeugung, es besser zu wissen als der Rest der Welt.
Kinder entwickeln meist im Alter von drei bis fünf Jahren ihr Schamgefühl. Zunächst schämen sie sich immer nur für sich selbst, Fremdscham kennen sie noch nicht. Um sich zu schämen, müssen sie sich in andere Menschen hineinversetzen können. Die ersten Empfindungen von Scham sind meistens an die Regeln gekoppelt, die sie in ihrer Familie lernen und mitbekommen: Was die Eltern schlecht, falsch oder eklig finden, lehnen die Kinder oft auch erst mal ab. Das kindliche Schamgefühl ist also eng verbunden mit einem »Regelverstoß«.9 Das Schamgefühl geht mit einem ersten Anflug von Moral einher und dem Bewusstsein darüber, dass es etwas gibt, was außerhalb des eigenen Empfindens liegt: Die Gefühle und Bedürfnisse anderer, meist der Familie. Dass es überhaupt eine Welt abseits des eigenen Kopfes gibt.
Dieses Bewusstsein weitet sich im Laufe der Zeit aus: Wir bemerken, dass es nicht nur die eigenen vier Wände und vielleicht noch die Straße vor dem Haus gibt, sondern viele Straßen, viele Häuser, ganze Städte, Länder, Kontinente, die sich dem eigenen Blick entziehen.
Das bedeutet auch, dass es für jeden Menschen eine Zeit ohne Scham gegeben haben muss. Auch für mich. Über diese Zeit kann ich nichts sagen und vielleicht kannst du das über deine auch nicht, denn: Erst in der Abgrenzung zu anderen, also dadurch, dass wir erkennen, dass wir nicht identisch mit anderen sind, dass wir uns von ihnen unterscheiden, können wir uns selbst wahrnehmen. Unsere Gefühle, unsere Bedürfnisse, unser individuelles Wesen. Byung-Chul Han schreibt in Die Austreibung des Anderen: »Der Andere ist konstitutiv für die Bildung eines stabilen Selbst.«10 Konflikte sind notwendig, um eine stabile Identität zu entwickeln, beständige Bindungen und Beziehungen aufzubauen. Das Problem des Menschen der Gegenwart sei aber, dass dieser nur den Zustand des Funktionierens oder Versagens kenne, aber nicht den Zustand des Konflikts.11 Bezogen auf Scham kann ich nicht uneingeschränkt mit Han mitgehen, der behauptet, wir würden »dem Anderen« nicht mehr wirklich begegnen, sondern in unseren immer gleichen Filterblasen verloren gehen.12 Aber dann dürfte es ja eigentlich auch nicht mehr zu Scham kommen, oder? Denn für Scham ist der Blick der anderen, entweder wirklich oder in der eigenen Vorstellung vorhanden, essenziell: Sighard Neckel, wohl einer der bekanntesten Soziologen, wenn es um Scham geht, macht deutlich »dass das menschliche Selbstbewusstsein auf die Wahrnehmung durch andere angewiesen und damit durch sie auch verwundbar ist. Das persönliche Selbstbewusstsein baut sich nicht nach der Logik des eigenen Ich auf. Das persönliche Selbstbewusstsein versichert sich seiner durch die Wertungen Dritter, und an diesen Wertungen geht es womöglich zugrunde.«13 Neckel und Han haben gemeinsam, dass sie um die Bedeutung der anderen für die Bildung einer eigenen Identität wissen. Erst dadurch, dass wir ein »Außen« definieren, also etwas, das außerhalb unserer eigenen Grenzen, unseres Körpers liegt, entwickeln wir ein Gefühl dafür, wer wir denn eigentlich sind, was uns als Individuen ausmacht. Aber genau mit dieser Abgrenzung von anderen wird gleichzeitig das Schamgefühl ermöglicht. Wir sind auf das angewiesen, was außerhalb unseres Selbst liegt. In der Scham zeigt sich, dass das vielleicht nicht so weit weg ist, wie Han denkt.
Wir lernen, dass wir nicht nur Beobachtende sind, sondern gleichzeitig auch immer die Objekte von Beobachtung. Und dass wir uns von anderen unterscheiden, möglicherweise auch in einer Art, die wir selbst oder aber andere nicht gutheißen. Es gibt also nicht nur unseren eigenen Blick, der sich beurteilend und bewertend auf andere richtet, sondern immer auch den Blick der anderen, der wiederum uns bewertet und beurteilt. In diesem Blick der anderen liegt laut Jean-Paul Sartre die erste Möglichkeit für Scham: »Die Scham aber ist […] Scham über sich, sie ist Anerkennung dessen, daß ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt.«14
… und beurteilt. Sartre beschreibt, dass der Blick kein neutraler ist, sondern dass dieser uns prüft. Und wenn andere und wir selbst merken, dass wir anders sind als jene oder als »die Norm«, wenn dieses Anderssein dann von uns selbst und anderen negativ beurteilt wird, schämen wir uns.
Das klingt komplex. Das klingt nach schwierigen Philosophen, die sich in ihren Studierzimmern irgendwas mit Blicken und Objekten und Subjekten überlegt haben. Deshalb sehe ich mir an, wann eigentlich meine