About Shame. Laura Späth
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Fast wünsche ich mir, es hätte weiterhin genügt, das coolere Pausenbrot dabeizuhaben. Oder sich mittels einer Geheimsprache zu verständigen, in der man sich doch letztendlich nichts zu sagen hat; die man nur verwendet, um Zugehörigkeit zur Schau zu stellen.
Aber aus der Geheimsprache wird Alltagssprache. Und aus den kleinen Objekten werden körperliche Merkmale, Verhaltensweisen, Besitztümer, Markenklamotten, Statussymbole. Über all diese Dinge verhandeln wir tagtäglich Zugehörigkeit. Für all diese Dinge bekommen wir Anerkennung – oder eben nicht.
Die jüngere Version meines Selbst kommt ins Gymnasium. In der fünften und sechsten Klasse denke ich nicht über Zugehörigkeiten nach. In diesem Zeitraum schäme ich mich nicht, weil mich meine Naivität weiterhin schützt. In dieser Zeit bemerke ich vielleicht erneut, dass ich anders bin, aber ich hadere deshalb nicht mit mir selbst und wünsche mir auch nicht, eine andere zu sein.
Am ersten Schultag im Gymnasium bin ich eines der wenigen Mädchen, die sich absichtlich neben eine Unbekannte setzen. Ich nehme mir vor, direkt neue Freundinnen finden zu wollen, Kontakte zu knüpfen, mich nicht nur mit den Mädchen zu umgeben, die ich sowieso schon aus meiner Grundschule, meinem Ort kenne.
Und es funktioniert. Ich finde Freundinnen. Ich finde sogar Freundinnen, die mich am liebsten für sich allein hätten. Ich halte mich an die Mädchen, die mich als ihre »beste Freundin« bezeichnen. Sie schützen mich vor Scham, indem sie mir Zugehörigkeit signalisieren. Ich werde für kurze Zeit eines dieser Mädchen vom Typ »Doppelpack«.
Den Ausdruck nehme ich wörtlich: Eine »beste Freundin« zu sein heißt, die Beste in etwas zu sein, perfekt, unfehlbar. Es heißt, dass Menschen zufrieden mit mir sind, mich gerne bei sich haben. Man wird gemocht. Man passt.
Eine »beste Freundin« ist auch diejenige, die verlässlich ist und Verantwortung trägt. Spannenderweise sucht sie sich ihre Position nicht aus: Die Rolle der »besten Freundin« ist ein Zuschreibungsphänomen. Und diese Rolle kann sie nicht verneinen ohne einen Konflikt, Streit oder den Bruch der Beziehung heraufzubeschwören. Ich war nie die Richtige für ein Doppelpack – so sehr ich sie sein wollte.
Scham ist also anerzogen, für jüngere Kinder ist sie unbekannt. Man könnte sich nun zurücksehnen zu dieser »Zeit der Schamlosigkeit«, um es mal so pathetisch auszudrücken. In dieser Zeit sind sie aber nur vermeintlich unschuldig: Genau aufgrund ihrer Schamlosigkeit sind Kinder so grausam. Die Scham, die auf meiner Seite vorhanden war, ist die Scham, die andere leider nicht hatten.
Scham ist nicht nur ein Gefühl, eine ganz individuelle Emotion. Es ist auch ein Macht- und Herrschaftsphänomen, ein soziales Phänomen, eine Sache, die nur im Austausch und in der Interaktion funktioniert: »Ein Individuum zur Scham zu veranlassen, heißt, Macht auf es auszuüben: Beschämungen erlauben Machtgewinn. Sich selbst zur Scham zu bewegen, heißt, sich seiner selbst zu bemächtigen. Scham ist Selbstzwang.«18 Ich begebe mich hier auf eine neue Ebene in der Auseinandersetzung: die von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Diese Ebene zu analysieren, ist nicht einfach. Man denkt oft, dass Macht einfach von außen auf eine*n wirkt, dass man sie immer unmittelbar sehen und spüren kann. Aber die Scham ist ein ganz gutes Beispiel dafür, dass es nicht immer so sein muss.
Jemanden beschämen zu können, zeugt oft von einer Macht, an der die beschämte Person sich »beteiligt«, wenn auch unter anderen Vorzeichen: »Beschämen kann uns nur, wessen Anerkennung wir überhaupt Bedeutung zuschreiben. Und umgekehrt gilt: Sobald wir einem Menschen unsere Anerkennung entziehen, sobald wir einer Person absprechen, anerkennenswert zu sein, verliert diese damit die Macht, uns zu beschämen«,19 schreibt Rita Werden. Macht baut auf wechselseitiger Anerkennung20 auf, also darauf, dass ich die anderen Kinder anerkenne als Personen, die mich beschämen können und damit Macht auf mich ausüben. Dann haben die Mädchen die Möglichkeit, mich nicht anzuerkennen und dadurch Scham in mir hervorzurufen.
Wir machen einen Zeitsprung in das Jahr 2009, in dem ich in der siebten Klasse bin. Ein Jahr, in dem ich, ausgelöst durch den Tod meiner Oma, etwas bekommen habe, was man Jugenddepression nennt. Und wenn eine depressive Phase zu Ende geht, dann fühlt es sich manchmal ein bisschen so an, als wäre man stehen geblieben. Alle Entwicklungen, die andere in der Zeit gemacht haben, sind einfach an einem*r vorbeigezogen und man fühlt, dass man im Vergleich zur Peergroup woanders steht.
Im Sommer will ich etwas, das Stephen Chbosky »teilnehmen« nennt, und dieser Begriff könnte nicht perfekter passen. Es geht nach einer Depression, nach einer Psychose und im Übrigen auch sonst im Leben sehr oft darum, (wieder) am Leben teilzunehmen. Ohne Chbosky damals gelesen zu haben, versuche ich dasselbe. Aber für die Teilnahme braucht es zwei Dinge: erstens etwas, woran man teilnimmt, und zweitens ein Umfeld, das eine*n teilnehmen lässt. Das Erste ist relativ leicht zu bekommen, weil es immer schon da ist. Egal, an was, an irgendetwas kann man immer teilnehmen. Aber das Zweite ist wesentlich schwerer zu organisieren.
Mir fällt auf, dass ich mich schon wieder darum herumwinde, diese Geschichte zu erzählen. Ich will aufstehen, meinen Tee austrinken und den Raum verlassen. Weil es wehtut, mich an Folgendes zu erinnern:
In meinem Umfeld gibt es einige Mädchen, die mit mir zum Handball gehen. Und schon hier weigert sich alles in mir »Wir« zu schreiben, denn dieses »Wir« gab es nie. Es gibt ein »Ich« und ein »die Anderen«. Diese Trennung hat nicht nur damit zu tun, dass ich in meinem 13. Lebensjahr eben ausschließlich physisch anwesend war, ständig über den Tod nachgedacht und mich nicht an Entwicklungsprozessen beteiligt habe. Dass ich die erste Bravo nicht mit den anderen gelesen habe. Sondern auch damit, dass die Mädchen es so wollten.
Im Handballtraining sehe ich diese Mädchen ständig und sie haben etwas, um was ich sie damals beneide: zum einen eine Unbeschwertheit, die fremd ist, sobald man auch nur einmal depressiv war. Zum anderen Zusammenhalt, der bei jeder Einzelnen für ein Gefühl von gesunder Zugehörigkeit führt. Und diese Zugehörigkeit ist es, die ich will. Dafür brauche ich die Anerkennung der Mädchen.
Zugehörigkeit erwirken die meisten Menschen mithilfe der Konstruktion von Ähnlichkeit. Wenn ich zu jemandem gehören will, versuche ich ein »Wir-Gefühl« zu erschaffen, Verbindungslinien zu ziehen und mich darauf zu berufen, dass es etwas gibt, in dem wir zueinander passen, zueinander gehören. Scham tritt dort auf, wo Menschen die Rolle des »Anderen« einnehmen müssen. Wo sie keine Wahl haben, dazuzugehören oder nicht. Wo Menschen, Verhältnisse und Normen ein Abseits bestimmen, in das man gezwungen wird.
Zugehörigkeit muss nicht unbedingt verbal verweigert werden. Es gibt subtilere Mittel, einer Person Anerkennung und Zugehörigkeit zu entziehen und sich dadurch der Situation zu bemächtigen: Wie man auf Wortbeiträge von einer Person reagiert, wie man sie ins Gespräch mit einbezieht. Wie man in einer Gruppe zusammensteht. Wird jemand konsequent abgedrängt? Wird jemand durchgehend ignoriert? Bekommt er*sie nur dann Aufmerksamkeit, wenn seine*ihre Worte belächelt werden sollen?
Nur schwer lässt sich rekonstruieren, wie diese Ausgrenzung damals funktioniert. Das alles ist begraben unter 100 anderen Erinnerungen, 200 Versprechungen, das niemals an die Oberfläche dringen zu lassen, und 300 Versuchen die Situation zu beschönigen, sie anders abzuspeichern. Aber die Scham ist erbarmungslos, weiß Ernaux, weiß ich, weißt du, und sie lässt die schlimmsten Erinnerungen glasklar aufblitzen.
Ich