Winzige Gefährten. Ed Yong
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Dieses Ziel nahm der Mikrobiologe Theodor Rosebury, ein Experte für die Mikroorganismen im Mund, seit 1928 für die Mikrobiome des Menschen in Angriff. Mehr als dreißig Jahre lang sammelte er alle Forschungsergebnisse, die er finden konnte, und 1962 verwob er die zarten, hauchdünnen Fäden zu einem robusten Teppich: dem bahnbrechenden Werk Microorganisms Indigenous to Man.25 »Soweit mir bekannt ist, hat noch nie jemand versucht, ein solches Buch zu schreiben«, schrieb er. »Es scheint sogar das erste Mal zu sein … dass das Thema als zusammengehörige Einheit behandelt wird.« Damit hatte er recht. Sein Werk war detailliert, umfassend und ein unentbehrlicher Vorgänger des hier vorliegenden Buches.26 In vielen Einzelheiten beschrieb er die häufigsten Bakterien in allen Körperteilen. Er schilderte, wie die Mikroorganismen ein Baby nach der Geburt besiedeln. Er äußerte die Vermutung, sie könnten Vitamine und Antibiotika produzieren und so Infektionen verhüten, die von Krankheitserregern verursacht werden. Er erklärte, das Mikrobiom kehre nach einer Antibiotikabehandlung in seinen Normalzustand zurück, könne sich aber bei einer chronischen Anwendung solcher Wirkstoffe auch längerfristig verändern. Und mit den meisten seiner Aussagen behielt er recht. »Vieles von der Verachtung, mit der die normale Flora seit langer Zeit gestraft wurde, ist noch nicht wiedergutgemacht worden«, schrieb er. »Dieses Buch soll unter anderem den Vorschlag machen, genau das zu tun.«
Es gelang. Roseburys zusammenfassende Darstellung erweckte ein daniederliegendes Fachgebiet zu neuem Leben und wurde zum Anlass für zahlreiche neue Forschungsarbeiten.27 Einer der Wissenschaftler, die zu diesem Vermächtnis beitrugen, war der liebenswürdige, in Frankreich geborene Amerikaner René Dubos, der sich bereits einen Namen gemacht hatte. In Anlehnung an die ökologischen Lehren der Delfter Schule erforschte er die Mikroorganismen im Boden; aus ihnen hatte er Wirkstoffe isoliert, die dazu beitrugen, das Anti biotikazeitalter einzuläuten. Aber Dubos hielt seine Wirkstoffe nicht für Waffen zum Abtöten von Mikroorganismen, sondern für Hilfsmittel, mit denen man sie »domestizieren« kann. Selbst in seinen späteren Arbeiten über Tuberkulose und Lungenentzündung verzichtete er darauf, Mikroorganismen in die Rolle von Feinden zu drängen, und entsprechend vermied er militaristische Metaphern. Er war im Kern ein überzeugter Naturliebhaber, und Mikroorganismen sind nun mal ein Teil der Natur. »Es war sein lebenslanges Credo, dass man Lebewesen nur in ihrer Beziehung zu allem anderen verstehen kann«, schrieb seine Biografin Susan Moberg.28
Dubos erkannte den Wert unserer symbiontischen Mikroorganismen und war betrübt darüber, dass man ihren Nutzen bislang übersehen hatte. »Das Wissen, dass Mikroorganismen für den Menschen hilfreich sein können, ist für die Allgemeinheit nie besonders reizvoll gewesen, denn Menschen sind in der Regel von den Gefahren, die ihr Leben bedrohen, stärker gefesselt als von den biologischen Kräften, auf die sie angewiesen sind«, schrieb er. »Die Geschichte der Kriegsführung ist stets glanzvoller als Berichte über Kooperation. Pest, Cholera und Gelbfieber haben den Weg in Romane, auf die Bühne und auf die Kinoleinwand gefunden, aber niemand hat jemals eine Erfolgsgeschichte über die nützlichen Funktionen der Mikroorganismen in Darm oder Magen geschrieben.«29 Zusammen mit seinen Kollegen Dwayne Savage und Russell Schaedler trug er dazu bei, diese Funktionen aufzuklären. Wie die drei zeigen konnten, gewinnen schlechte Siedler unter Umständen die Oberhand, wenn man die angestammten Mikroorganismenarten mit Antibiotika vernichtet. Sie untersuchten keimfreie Mäuse, die man in sterilen Brutkästen aufgezogen hatte, und konnten nachweisen, dass diese Nagetiere kürzer lebten, langsamer heranwuchsen, ein anormales Verdauungs- und Immunsystem besaßen und anfälliger für Stress und Infektionen waren. »Für die Entwicklung und die physiologische Tätigkeit normaler Tiere und Menschen spielen mehrere Mikroorganismenarten eine unverzichtbare Rolle«, schrieb er.30
Aber Dubos wusste auch, dass er nur an der Oberfläche kratzte. »Mit Sicherheit stellen sie [die bisher identifizierten Bakterien] nur einen sehr kleinen Teil der gesamten einheimischen Mikrobiome dar, und zwar noch nicht einmal den wichtigsten«, schrieb er. Der Rest – vielleicht bis zu 99 Prozent – wollte einfach im Labor nicht wachsen. Diese »nicht kultivierte Mehrheit« war ein beängstigendes Hindernis. Obwohl seit Leeuwenhoeks Zeit so vieles geschehen war, wussten die Mikrobiologen über die meisten Organismen, die sie eigentlich erforschen sollten, immer noch nichts. Leistungsfähige Mikroskope allein konnten das Problem nicht lösen. Auch Methoden zur Aufzucht von Mikroorganismen konnten das Problem nicht lösen. Man brauchte einen anderen Ansatz.
Ende der 1960er-Jahre machte sich der junge Amerikaner Carl Woese an ein verschrobenes Nischenprojekt: Er sammelte verschiedene Bakterienarten und analysierte die Moleküle ihrer sogenannten 16S-rRNA, die in allen Mikroorganismen vorkommt. Kein anderer Wissenschaftler erkannte den Wert einer solchen Arbeit, und so hatte Woese keine Konkurrenten: »Es war ein Rennen mit nur einem Pferd«, sagte er später.31 Außerdem war es ein teures, langsames und gefährliches Rennen, zu dem der Umgang mit beunruhigend großen Mengen an radioaktiven Flüssigkeiten gehörte. Aber es war auch revolutionär.
Zu jener Zeit konnten Biologen die Verwandtschaften zwischen verschiedenen biologischen Arten ausschließlich aus ihren körperlichen Merkmalen ableiten: Durch Vergleich von Einzelheiten der Größe, Form und Anatomie fanden sie heraus, wer mit wem verwandt war. Woese erkannte, dass er mit den Lebensmolekülen besser vorankam: mit DNA, RNA und Proteinen, die allen Lebewesen gemeinsam sind. In ihren Molekülen sammeln sich Veränderungen im Laufe der Zeit an, das heißt, eng verwandte Arten haben ähnlichere Versionen als solche mit weitläufigen Verwandtschaftsverhältnissen. Wenn er die richtigen Moleküle bei einem ausreichend vielgestaltigen Spektrum verschiedener Arten verglich, mussten sich die Zweige und Äste des Lebensstammbaums zeigen.32
Woese konzentrierte sich auf die 16S-rRNA, die von einem Gen gleichen Namens produziert wird. Sie gehört zu dem unentbehrlichen Proteinsyntheseapparat, der in allen Organismen vorhanden ist, und erwies sich damit als die von Woese gewünschte, überall vergleichbare Einheit. Bis 1976 hatte er Profile der 16S-rRNA von ungefähr dreißig verschiedenen Mikroben erstellt. Im Juni desselben Jahres begann er mit der Arbeit an einer Spezies, die sein Leben verändern sollte – und nicht nur sein Leben, sondern auch die Biologie, wie wir sie kennen.
Sein Untersuchungsobjekt stammte von Ralph Wolfe, der zu einem führenden Experten für eine rätselhafte Gruppe von Mikroben geworden war, die Methanogene. Diese Organismen brauchen zum Leben kaum mehr als Kohlendioxid und Wasserstoff, aus denen sie Methan herstellen. Sie sind in Sümpfen, Ozeanen und dem Darm des Menschen zu Hause; die Spezies, die Wolfe geschickt hatte, hieß Methanobacterium thermoautotrophicum und lebte im warmen Schlamm von Kläranlagen. Woese ging wie alle anderen davon aus, dass es sich einfach um eine weitere Bakterienart handelte, wenn auch um eine mit seltsamen Lebensgewohnheiten. Als er aber ihre 16SrRNA analysierte, wurde ihm klar, dass sie eindeutig nicht bakterientypisch war. In der Frage, wann er die Bedeutung seiner Beobachtung in vollem Umfang begriff, wie überschwänglich oder vorsichtig er war und ob er eine Wiederholung der Experimente forderte, gehen die Berichte auseinander. Eines aber ist klar: Im Dezember hatte seine Arbeitsgruppe mehrere weitere Methanogene sequenziert und bei allen die gleiche Gesetzmäßigkeit gefunden. Wolfe erinnert sich, dass Woese zu ihm sagte: »Diese Dinger sind noch nicht einmal Bakterien.«
Woese