Winzige Gefährten. Ed Yong
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Die meisten von uns werden diese winzigen Lebewesen mangels eines Mikroskops nie unmittelbar zu Gesicht bekommen. Wir bemerken nur ihre Auswirkungen, und zwar insbesondere die negativen. Wir spüren den schmerzhaften Krampf eines entzündeten Darms und hören das Geräusch eines unkontrollierbaren Niesens. Das Bakterium Mycobacterium tuberculosis können wir mit bloßem Auge nicht sehen, aber wir sehen den blutigen Auswurf eines Tuberkulosepatienten. Auch Yersinia pestis, ein weiteres Bakterium, ist für uns unsichtbar, aber die Pestepidemien, die es auslöst, sind nur allzu offensichtlich. Solche Pathogene – Mikroorganismen, die Krankheiten hervorrufen – haben die Menschen während ihrer gesamten Geschichte traumatisiert und eine immer noch nachwirkende kulturelle Narbe hinterlassen. Die meisten Menschen sehen in den Mikroben nur Keime, unerwünschte Überbringer von Seuchen, die wir um jeden Preis meiden müssen. In der Zeitung lesen wir regelmäßig beängstigende Berichte, in denen Alltagsgegenstände von Tastaturen über Handys bis zu Türklinken – keuch! – über und über von Bakterien bedeckt sind. Mehr Bakterien als auf einem Toilettensitz! Damit wird angedeutet, diese Mikroorganismen seien eine Verunreinigung und ihre Gegenwart ein Anzeichen für Schmutz, Vernachlässigung und Krankheitsgefahr. Solche Klischees sind zutiefst ungerecht. Die meisten Mikroorganismen sind keine Krankheitserreger. Sie machen uns nicht krank. Noch nicht einmal hundert Bakterienarten lösen beim Menschen ansteckende Krankheiten aus;8 dagegen sind die vielen Tausend Arten in unserem Darm in ihrer Mehrzahl harmlos. Im schlimmsten Fall sind sie blinde Passagiere oder Mitreisende. Bestenfalls jedoch sind sie ein unschätzbar wertvoller Bestandteil unseres Körpers: Sie nehmen ihm nicht das Leben, sondern hüten es. Die Mikroben verhalten sich wie ein verborgenes Organ, das ebenso wichtig ist wie der Magen oder das Auge, aber nicht aus einer einzigen, einheitlichen Masse besteht, sondern aus Billionen wimmelnder Einzelzellen.
Das Mikrobiom ist unendlich viel flexibler als die uns vertrauten Körperteile. Unsere Zellen enthalten zwischen 20.000 und 25.000 Gene, die Zahl der Gene in den Mikroorganismen in unserem Inneren liegt dagegen nach Schätzungen 500-mal höher.9 Dieser genetische Reichtum macht sie in Verbindung mit ihrer schnellen Evolution zu biochemischen Virtuosen, die sich auf praktisch jede erdenkliche Herausforderung einstellen können. Sie wirken an der Verdauung unserer Nahrung mit und setzen Nährstoffe frei, die ansonsten unzugänglich wären. Sie produzieren Vitamine und Mineralstoffe, die in unserer Ernährung fehlen. Sie bauen Giftstoffe und gefährliche Chemikalien ab. Sie schützen uns vor Krankheiten, weil sie gefährlichere Mikroorganismen zahlenmäßig überflügeln oder unmittelbar mit mikrobenhemmenden Wirkstoffen abtöten. Sie produzieren Substanzen, die sich auf unseren Geruchssinn auswirken. Ihre Gegenwart ist so unvermeidlich, dass wir erstaunliche Aspekte unseres Lebens in sie ausgelagert haben. Sie lenken den Aufbau unseres Körpers, indem sie Moleküle und Signale abgeben, die das Wachstum unserer Organe steuern. Sie erziehen unser Immunsystem und bringen ihm bei, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Sie wirken sich auf die Entwicklung des Nervensystems aus und beeinflussen vielleicht sogar unser Verhalten. Sie tragen auf tief greifende, vielfältige Weise zu unserem Leben bei; kein Winkel unserer Biologie bleibt von ihnen unberührt. Wenn wir sie nicht zur Kenntnis nehmen, betrachten wir unser Leben nur durchs Schlüsselloch.
Dieses Buch soll die Tür weit aufstoßen. Wir werden das unglaubliche Universum erkunden, das sich innerhalb unseres Körpers befindet. Wir werden etwas über die Ursprünge unserer Bündnisse mit Mikroorganismen erfahren, über die völlig unerwartete Art, auf die sie unseren Körper formen und unser Alltagsleben prägen, und über die Kunstgriffe, mit denen wir sie im Zaum halten und eine herzliche Partnerschaft sicherstellen. Wir werden uns ansehen, wie wir diese Partnerschaft manchmal unabsichtlich beeinträchtigen und damit unsere Gesundheit untergraben. Wir werden erfahren, wie wir solche Probleme rückgängig machen können, indem wir das Mikrobiom zu unserem Vorteil verändern. Und wir werden Geschichten über die vergnügten, fantasievollen, betriebsamen Wissenschaftler hören, die ihr Leben dem Ziel gewidmet haben, die Welt der Mikroorganismen zu verstehen, und das häufig angesichts von Hohn, Ablehnung und Fehlschlägen.
Dabei werden wir uns nicht nur auf die Menschen konzentrieren.10 Vielmehr werden wir erfahren, wie Mikroben auch Tiere mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, evolutionären Möglichkeiten und sogar mit ihren eigenen Genen ausgestattet haben. Der Wiedehopf, ein Vogel mit dem Profil einer Spitzhacke und den Farben eines Tigers, bestreicht seine Eier mit einer bakterienhaltigen Flüssigkeit, die er aus einer Drüse unterhalb des Schwanzes ausscheidet; die Bakterien setzen Antibiotika frei und verhindern so, dass gefährlichere Mikroorganismen in die Eier eindringen und die Jungen schädigen. Auch Blattschneiderameisen tragen antibiotikaproduzierende Mikroorganismen im Körper und desinfizieren mit ihnen die Pilze, die sie in ihren unterirdischen Gärten heranzüchten. Der stachelige, aufblasbare Kugelfisch benutzt Bakterien, um Tetrodotoxin herzustellen, eine außerordentlich giftige Substanz, die natürliche Feinde tötet, wenn sie versuchen, den Fisch zu fressen. Bakterien im Speichel des Kartoffelkäfers, eines wichtigen Schädlings, unterdrücken die Abwehrmechanismen der Pflanzen, die er frisst. Gestreifte Kardinalbarsche locken mit Leuchtbakterien, die sie im Körper tragen, ihre Beute an. Die Ameisenjungfer, ein Raubinsekt mit Furcht einflößenden Kiefern, lähmt ihre Opfer mit Giftstoffen, die von Bakterien im Speichel produziert werden. Manche Fadenwürmer töten Insekten, indem sie giftige Leuchtbakterien in deren Körper speien;11 andere bohren sich in Pflanzenzellen und verursachen mithilfe von Genen, die sie von Mikroben gestohlen haben, gewaltige Verluste in der Landwirtschaft.
Unsere Bündnisse mit Mikroorganismen haben den Verlauf der Evolution der Tiere wiederholt verändert und die Welt um uns herum zu einer anderen gemacht. Am einfachsten kann man einschätzen, wie wichtig diese Partnerschaften sind, wenn man darüber nachdenkt, was geschehen würde, wenn sie zerbrechen würden. Stellen wir uns einmal vor, alle Mikroorganismen auf der Erde würden plötzlich verschwinden. Der Vorteil wäre, Infektionskrankheiten würden der Vergangenheit angehören und auch viele Schadinsekten kämen nicht mehr über die Runden. Das war es dann aber schon mit den guten Nachrichten. Weidetiere wie Kühe, Schafe, Antilopen und Hirsche würden verhungern, denn sie sind schlichtweg darauf angewiesen, dass die Mikroben in ihrem Darm die zähen Fasern der gefressenen Pflanzen verdauen. Die großen Herden der afrikanischen Savanne würden verschwinden. Ähnlich abhängig von der Verdauungstätigkeit der Mikroben sind auch Termiten: Auch sie würden also verschwinden, genauso wie die größeren Tiere, denen sie als Nahrung dienen oder denen ihre Bauten einen Unterschlupf bieten. Blattläuse, Zikaden und andere Insekten, die sich von Pflanzensaft ernähren, wären ohne Bakterien, die ihnen die in der Nahrung fehlenden Nährstoffe liefern, zum Untergang verdammt. In der Tiefsee beziehen viele Würmer, Schalen- und andere Tiere ihre gesamte Energie von Bakterien. Ohne Mikroben wurden auch sie sterben, und das gesamte Nahrungsnetz in den tiefen Abgründen dieser Welt würde zusammenbrechen. Den flacheren Ozeanen würde es kaum besser ergehen. Die Korallen, die auf mikroskopisch kleine Algen und eine überraschend vielfältige Ansammlung von Bakterien angewiesen sind, würden geschwächt und angreifbar. Ihre mächtigen Riffe würden ausbleichen und erodieren, und darunter würde das gesamte Leben leiden, das von ihnen versorgt wird.
Den Menschen würde es seltsamerweise gut gehen. Im Gegensatz zu anderen Tieren, für die Keimfreiheit den schnellen Tod bedeuten würde, kämen wir noch auf Wochen, Monate oder sogar Jahre hinaus zurecht. Unter Umständen würde unsere Gesundheit leiden, aber wir hätten dringendere Sorgen. Sehr schnell würde sich Abfall ansammeln, denn Mikroorganismen sind die Könige der Zersetzung. Mit den Weidetieren würden auch unsere Nutztiere zugrunde gehen. Das Gleiche gilt für unsere Nutzpflanzen: Mikroorganismen versorgen die Pflanzen mit Stickstoff, und ohne sie würde die Erde eine katastrophale Entgrünung erleben. (Dieses Buch konzentriert sich jedoch ausschließlich auf Tiere, was mir die Botanikbegeisterten unter den Lesern verzeihen mögen.) »Wir sagen in Verbindung mit dem katastrophalen Versagen der Lebensmittelversorgung den vollständigen gesellschaftlichen