Winzige Gefährten. Ed Yong
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Wie können wir angesichts dessen, was wir wissen, überhaupt ein Individuum definieren?25 Beschreibt man das Individuum anatomisch als den Besitzer eines bestimmten Körpers, muss man einräumen, dass die Mikroorganismen den Raum mit ihm teilen. Man könnte es mit einer Definition auf der Grundlage der Entwicklung versuchen: Dann ist ein Individuum alles, was aus einer einzigen befruchteten Eizelle hervorgeht. Aber auch das funktioniert nicht, denn der Körper mancher Tiere – von Tintenfischen über Mäuse bis zu Zebrafischen – wird auf der Grundlage von Anweisungen aufgebaut, die sowohl in ihren eigenen Genen als auch in ihren Mikroorganismen codiert sind. In einer sterilen Blase würden sie nicht normal heranwachsen. Man könnte eine physiologische Definition zur Debatte stellen, in der das Individuum aus Teilen – Geweben und Organen – besteht, die zum Wohle des Ganzen kooperieren. Das stimmt schon, aber wie steht es mit Insekten, in denen Bakterien- und Wirtsenzyme bei der Herstellung lebenswichtiger Nährstoffe zusammenwirken? Diese Mikroben sind in jedem Fall ein Teil des Ganzen, und ein unentbehrlicher Teil noch dazu. Die gleichen Probleme wirft eine genetische Definition auf, wonach ein Individuum aus Zellen besteht, denen das gleiche Genom gemeinsam ist.
Jedes einzelne Tier enthält sein eigenes Genom, darüber hinaus wirken sich aber auch viele Mikrobengenome auf sein Leben und seine Entwicklung aus. In manchen Fällen können die Genome von Mikroorganismen sich auf Dauer im Genom des Wirtsorganismus festsetzen. Ist es demnach wirklich sinnvoll, sie als eigenständige Gebilde zu betrachten? Wenn wir mit unserem Latein am Ende sind, können wir den Schwarzen Peter dem Immunsystem zuschieben, das ja angeblich zu dem Zweck existiert, unsere eigenen Zellen von denen der Eindringlinge zu unterscheiden, Selbst und Nichtselbst auseinanderzuhalten. Auch das stimmt aber nicht ganz; wie wir noch genauer erfahren werden, tragen die in uns ansässigen Mikroorganismen dazu bei, unser Immunsystem aufzubauen, das seinerseits lernt, sie zu tolerieren. Ganz gleich, wie wir das Problem auch drehen und wenden, eines ist klar: Mikroorganismen stellen unsere Vorstellungen von Individualität infrage. Und sie prägen unsere Individualität auch. Ihr Genom gleicht im Wesentlichen meinem, aber unsere Mikrobiome können sehr unterschiedlich sein (und für unsere Virome gilt das noch stärker). Vielleicht ist es weniger so, dass ich Vielheiten enthalte, sondern eher, dass ich Vielheiten bin.
Sich das vorzustellen, kann zutiefst beunruhigen. Unabhängigkeit, freier Wille und Identität sind zentrale Gedanken unseres Lebens. David Relman, ein Pionier der Mikrobiomforschung, schrieb einmal: »Der Verlust eines Gefühls der eigenen Identität, der Illusionen im Hinblick auf die eigene Identität und Erlebnisse einer ›Fremdbestimmung‹« seien potenzielle Anzeichen für eine Geisteskrankheit.26 »Da ist es kein Wunder, dass die Erforschung der Symbiose in jüngster Zeit ein beträchtliches Maß an Interesse und Aufmerksamkeit geweckt hat«. Er fügt aber auch hinzu: »[Solche Untersuchungen] werfen ein Schlaglicht auf die Schönheit der Biologie. Wir sind soziale Lebewesen und streben danach, unsere Verbindungen zu anderen lebenden Gebilden zu verstehen. Symbiose ist das beste Beispiel für den Erfolg durch Zusammenarbeit und für den gewaltigen Nutzen enger Beziehungen.«
Der gleichen Ansicht bin ich auch. Symbiose ist ein Hinweis auf die Fäden, die alles Leben auf der Erde verbinden. Warum können so unterschiedliche Organismen wie Menschen und Bakterien zusammenleben und zusammenarbeiten? Weil wir einen gemeinsamen Vorfahren haben. Wir speichern die Information nach dem gleichen Codierungsschema in unserer DNA. Moleküle namens ATP dienen uns als Energiewährung. Das Gleiche gilt quer durch die gesamte Welt des Lebendigen. Stellen wir uns einmal ein Sandwich mit Schinken, Salat und Tomaten vor: Vom Salat über die Tomaten bis zum Schwein, von dem der Schinken stammt, und von der Hefe, mit der das Brot gebacken wurde, bis zu den Mikroorganismen, die mit Sicherheit auf seiner Oberfläche liegen, sprechen alle Zutaten die gleiche molekulare Sprache. Oder, wie der niederländische Biologe Albert Jan Kluyver es einmal formulierte: »Vom Elefant bis zum Buttersäurebakterium – es ist alles das Gleiche!«
Wenn wir erst einmal begreifen, wie ähnlich wir sind und wie tief die Verbindungen zwischen Tieren und Mikroorganismen reichen, wird unser Blick auf die Welt unermesslich viel reichhaltiger. Bei mir war es mit Sicherheit so. Schon immer liebte ich die Natur. Meine Regale sind voller Dokumentarfilme über Tiere und voller Bücher, in denen es von Erdmännchen, Spinnen, Chamäleons, Quallen und Dinosauriern wimmelt. Aber nirgendwo ist davon die Rede, wie Mikroorganismen das Leben ihrer Wirte beeinflussen, verbessern und lenken; die Filme und Bücher sind also unvollständig – Bilder ohne Rahmen, Kuchen ohne Zuckerguss, Lennon ohne McCartney. Heute erkenne ich, wie stark das Leben all dieser Tiere von unsichtbaren Organismen abhängig ist, mit denen sie leben, ohne sich ihrer bewusst zu sein, die zu ihren Fähigkeiten beitragen und manchmal gänzlich dafür verantwortlich sind, und die auf unserem Planeten schon viel länger existieren als wir. Es ist ein schwindelerregender Perspektivwechsel, aber auch ein großartiger.
In den Zoo gehe ich schon, seit ich so klein war, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann (und noch nicht wusste, dass man nicht in den Käfig der Riesenschildkröten klettern soll). Aber mein Besuch im Zoo von San Diego mit Knight (und Baba) fühlt sich anders an. Der Zoo ist ein turbulentes Durcheinander von Farben und Geräuschen, und doch wird mir klar, dass das Leben hier zum größten Teil unsichtbar und unhörbar ist. Am Haupteingang trennen sich Gefäße voller Mikroorganismen von ihrem Geld, damit sie durch die Tore gehen und anders geformte Mikrobengefäße sehen können, die in Käfigen und Gehegen herumlungern. Billionen Mikroben fliegen, verborgen in gefiederten Körpern, durch die Volieren. Andere Horden schwingen sich von Ast zu Ast oder sausen durch Tunnel. Ein Bakterienhaufen, eingekuschelt in das Hinterende eines schwarzen Kaminvorlegers, erfüllt die Luft mit dem angenehmen Duft von Popcorn. Das ist die wahre Welt des Lebendigen, und obwohl sie für meine Augen immer noch unsichtbar ist, kann ich sie endlich erkennen.
KAPITEL 2
DIE IDEE, GENAUER HINZUSEHEN
BAKTERIEN SIND ÜBERALL, aber was unser bloßes Auge betrifft, könnten sie ebenso gut nirgendwo sein. Es gibt nur ein paar außergewöhnliche Ausnahmen: Epulopiscium fishelsoni, ein Bakterium, das ausschließlich im Darm des Goldtupfen-Doktorfisches lebt, ist ungefähr so groß wie der Punkt am Ende dieses Satzes. Alle anderen kann man ohne Hilfsmittel nicht sehen, das heißt, sehr lange sah man sie überhaupt nicht. In unserem imaginären Kalender, der die Erdgeschichte in einem Jahr zusammendrängt, tauchten Bakterien erstmals Mitte März auf. Praktisch während ihrer gesamten Lebenszeit war nichts und niemand sich ihrer Existenz bewusst. Ihr anonymes Leben endete erst wenige Sekunden vor dem Jahresende, als ein neugieriger Niederländer auf die schrullige Idee kam, einen Tropfen Wasser durch selbst gefertigte Linsen von Weltklassequalität zu betrachten.
Antoni van Leeuwenhoek wurde 1632 in Delft geboren, einer pulsierenden Drehscheibe des Auslandshandels, die von Kanälen, Bäumen und Wegen mit Kopfsteinpflaster durchzogen war.1 Tagsüber arbeitete er als städtischer Beamter und führte ein kleines Kurzwarengeschäft. Nachts stellte er Linsen her. Zeit und Ort waren dafür günstig: Die Niederländer hatten kurz zuvor sowohl das zusammengesetzte Mikroskop als auch das Teleskop erfunden. Jetzt konnten Wissenschaftler durch kleine runde Glasstücke auch Gegenstände sehen, die viel zu klein waren, als dass man sie mit bloßem Auge hätte erkennen können. Einer von ihnen war der britische Universalgelehrte Robert Hooke. Er richtete den Blick auf alle möglichen winzigen Dinge: Flöhe, Läuse, die sich an Haare klammerten, Nadelspitzen, Pfauenfedern, Hanfsamen. Seine Beobachtungen veröffentlichte er 1665 in einem Buch mit dem Titel Micrographia, das auch großartige, außerordentlich detaillierte Abbildungen enthielt. Es wurde in Großbritannien sofort zum Bestseller. Kleine Dinge hatten ihre große Zeit.
Leeuwenhoek hatte im Gegensatz zu Hooke nie eine Universität besucht. Er war kein ausgebildeter Wissenschaftler und sprach nicht die lateinische Gelehrtensprache, sondern nur Niederländisch. Allerdings brachte er sich selbst bei, Linsen herzustellen, und das mit einer Geschicklichkeit, an die kein anderer