Fallout. Fred Pearce
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Nevada war ein Nachzügler in Sachen Nuklearwaffentests. Die allererste, zunächst geheim gehaltene Atombombendetonation fand in den frühen Morgenstunden des 16. Juli 1945 statt. (Atomtests wurden in der Regel in der Morgendämmerung angesetzt, weil meist Windstille herrschte, was die Ausbreitung des Fallouts minimierte und die Wolke besonders pilzförmig erscheinen ließ.) Schauplatz des Trinity-Tests war die Wüste Jornada del Muerto, wörtlich »Marsch des Toten«, südlich von Albuquerque in New Mexico. Durch die Detonation der tennisballgroßen Plutoniumkugel verdampfte der gut dreißig Meter hohe Stahlturm, an dem die Bombe aufgehängt war, und zurück blieb ein dreihundert Meter breiter Krater im Sand. Die Pilzwolke über der Wüste erhob sich bis in eine Höhe von mehr als zwölf Kilometern. Nach vierzig Sekunden erreichte eine dröhnende Druckwelle die knapp zehn Kilometer entfernten nächsten Beobachter und riss viele von ihnen um. Der Sand rings um den Krater schmolz zu grünem Glas, dem Geologen später den Namen Trinitit gaben.5
1952 füllten Pioniere der US-Armee den Krater auf und errichteten einen Obelisken mit Gedenktafel. Der Ort der Detonation gehört heute zum Raketentestgelände White Sands Missile Range und ist zweimal im Jahr für die Öffentlichkeit zugänglich. Wer versucht ist, einen der Trinititsplitter aufzuheben, die man immer noch rund um den Obelisken finden kann, wird ermahnt, dies sei verboten – das Glas ist mit radioaktiven Plutoniumspuren bedeckt, deren Zerfall noch Zehntausende Jahre andauern wird.
Nach dem Krieg hatten die Bombenmacher zunächst beschlossen, amerikanischen Boden nicht durch Atomtests zu beschmutzen. Für weitere Versuche mit noch mächtigeren Bomben fiel ihre Wahl auf die Marshallinseln im Pazifik, die man jüngst von den Japanern befreit hatte, genauer auf eines ihrer entlegensten Atolle, das Bikini-Atoll. Das bescherte der Welt den Bikini. Das erste zweiteilige Badeanzugmodell bekam den Namen atome und wurde 1946 von dem französischen Modeschöpfer Jacques Heim begeistert als »der kleinste Badeanzug der Welt« angepriesen. Nach dem ersten US-Kernwaffentest in jenem Sommer jedoch brachte ein französischer Kfz-Ingenieur namens Louis Réard, der kurz zuvor das Dessous-Unternehmen seiner Mutter übernommen hatte, einen noch winzigeren Zweiteiler auf den Markt, den er Bikini nannte. Der Vatikan nannte ihn »sündig« – den Badeanzug wohlgemerkt, nicht den Atomtest.
Als auch die Sowjetunion 1949 zur Atommacht aufgestiegen war, nahm die Häufigkeit der Tests zu, und weil die Wüste von Nevada so gut dafür geeignet war, testeten die Atombombardiere nun wieder auf heimischem Grund und Boden. Nachdem sie am 27. Januar 1951 den »Apparat« ABLE über dem ausgetrockneten See Frenchman Flat auf dem neuen Testgelände von Nevada zur Detonation gebracht hatten, wurde der frühmorgendliche Himmel nun häufiger von Atomtests erhellt, die oft sogar im Fernsehen übertragen wurden.
Schon bald verfolgte das ganze Land begeistert das nukleare Spektakel. Alles Mögliche, von Uhren über Lampen bis hin zu Firmenlogos, wurde plötzlich im »Atomstil« gestaltet, etwa mit Pilzwolken oder einem Atomkern, umkreist von Elektronen. Highschool-Football-Teams bekamen neue Namen wie »The Atoms«. (Eine Schulmannschaft aus der Umgebung des Nuklearkomplexes von Hanford verwendet bis heute das Atompilzsymbol.6) Doch unter die Begeisterung mischte sich Angst. Es war die Amtszeit von Senator Joe McCarthy, und die von ihm geleiteten öffentlichen Verhöre zur Aufdeckung einer befürchteten Unterwanderung der Regierung durch Kommunisten führten in der Politik zu einem Klima der Paranoia. Dabei gab es durchaus echte Spione, wie den jüngst inhaftierten Klaus Fuchs. Und aufgrund der Furcht vor einem totalen Atomkrieg zwischen den USA und den Sowjets wurden erschreckend systematische Vorkehrungen getroffen.
Unheimlicher noch als die Atomtest-Gaffer in den Luxussuiten von Las Vegas waren die sogenannten Survival Towns. Auf dem Testgelände errichteten Soldaten Abbilder amerikanischer Vorstädte mit vollständig eingerichteten Häusern, bewohnt von Schaufensterpuppen. Ihre Zerstörung wurde detailgenau auf Film festgehalten, denn man wollte wissen, was passierte, wenn das Land apfelkuchenseliger Heimeligkeit in Grund und Boden gebombt würde.7
Nicht weit davon entfernt, ebenfalls auf dem Testgelände, lag eine beinahe genauso surreal anmutende Stadt. Mit Mercury, einem alten, etwa acht Kilometer vom Highway 95 entfernten Bergbauort, bekam nun auch Amerika eine geschlossene Atomstadt. Sie bildete den Zugang zum Testgelände, war aber zugleich durch militärische Bewachung von der Außenwelt abgeschnitten. Zeitweise hatte Mercury eine Bevölkerung von über zehntausend Angestellten und kam damit fast an die ständige Bevölkerung von Las Vegas heran. Es gab eine Bowlingbahn, ein Kino, ein Schwimmbad, eine Kirche, ein Krankenhaus, eine Bibliothek und das Atomic Motel – ganz zu schweigen von der Desert-Rock-Landebahn, eigens errichtet für den Besuch von Präsident John F. Kennedy im Jahr 1963. Auch Mercury war ein perfektes Imitat einer amerikanischen Vorstadt – und endete als einziges nicht in Trümmern. Wenngleich auf nur noch fünfhundert Seelen geschrumpft, besteht diese Zeitkapsel der 1950er-Jahre bis heute.
Zwischen 1951 und 1962 wurden in Nevada rund einhundert oberirdische Tests durchgeführt. Broschüren der Atomenergiekommission sollten jegliche Ängste beschwichtigen, dass es gefährlich sei, die Tests zu beobachten. Anwohnern und Touristen wurde versichert: »Obwohl manche von Ihnen einem potenziellen Risiko durch Lichtblitz, Detonation oder Fallout ausgesetzt gewesen sind«, sei die von den Tests ausgehende Strahlung »nur geringfügig höher als die normale Strahlung […] unabhängig von Ihrem Wohnort« und »stellt für alles Leben außerhalb des Testgeländes keine ernsthafte Gefahr dar«.8
Auf jeden Fall sei es patriotisch, Zeuge zu sein. »Sie nehmen damit ganz konkret aktiv am Atomtestprogramm unserer Nation teil«, hieß es in der Broschüre. Ja, natürlich, aber zugleich waren die Zeugen unfreiwillige Versuchskaninchen in einem staatlichen Experiment. Als die Pilzwolken vom Wind auseinandergetrieben wurden, verteilten sie radioaktive Partikel über das ganze Land. In späteren Jahren sollten Forscher Gesundheitsstatistiken studieren, um herauszufinden, wie gefährlich dieser Fallout womöglich gewesen war. Viele US-Bürger klagten vor Gericht auf Ausgleichszahlungen für körperliche Schäden, die sie angaben, erlitten zu haben.
Anwohner hakten bereits früh nach, ob die Tests wirklich so unbedenklich für sie waren, wie die Atomenergiekommission es stets erklärte. Anfang 1953 starben rund viertausend Schafe, darunter neugeborene Lämmer, auf einer achtzig Kilometer entfernten Weide in Hauptwindrichtung vom Testgelände. Damals wurde der Vorfall vertuscht. Tote Lämmchen waren schlechte PR, doch zwanzig Jahre später stellten Forscher – obwohl die Kommission einen Zusammenhang immer zurückgewiesen hatte – fest, dass die Tiere durch den Fallout radioaktiv belastetes Gras gefressen hatten und daran gestorben waren. Als einige Wochen nach dem Vorfall mit den Schafen kurz nach der Detonation des Tests »Simon« der Fallout niederging, waren die Behörden so alarmiert, dass Straßen jenseits der Grenze zu Kalifornien gesperrt und Dutzende Fahrzeuge dekontaminiert wurden. 1958 mischte sich eine Fallout-Wolke mit dem Smog über Los Angeles.9
Die Wissenschaft hinkte den Ängsten der Bevölkerung stets hinterher. Als Erstes widmete man sich den Armeeangehörigen. Wie eine Studie aus den späten 70er-Jahren befand, waren unter den dreitausend Soldaten, die man im August 1957 hatte antreten lassen, um dem Test »Smokey« beizuwohnen, später doppelt so viele Leukämiefälle zu verzeichnen als statistisch erwartbar. War das nun Zufall, das Ergebnis einer besonders genauen Erhebung oder eine tatsächliche Auswirkung? Möglich sind alle drei Erklärungen. Die Amerikanische Krebsgesellschaft gab später bekannt, dass die Zahl der Leukämiefälle unter Militärangehörigen, die den Tests im Rahmen ihrer Dienstpflicht beigewohnt hatten, im Durchschnitt dreimal höher gewesen sei; andere