Der energethische Imperativ. Hermann Scheer

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Der energethische Imperativ - Hermann Scheer

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3,5 Prozent aus Wasserkraft, zu 7 Prozent aus geothermischer Energie und zu ebenfalls 3,5 Prozent aus Abfallbiomasse. Als Maßnahmen werden die Stärkung des Emissionshandels vorgeschlagen, die stärkere Ausrichtung der Energiebesteuerung an den CO2-Emissionen und die Förderung der Markt- und Systemintegration erneuerbarer Energien.

      100 Prozent-Initiativen gibt es zunehmend bereits in Städten und Landkreisen. Einen Überblick vermittelt das Buch von Peter Droege »100 Prozent Renewable Energy«, das solche Konzepte für große Städte wie München oder für neue Städte wie Masdar City im arabischen Emirat Abu Dhabi enthält.[15] Ein Überblick über regionale Initiativen findet sich auch in dem vom Bundesarbeitskreis für umweltbewusstes Management (BAUM) herausgegebenen Buch »Auf dem Weg zu 100 Prozent-Regionen«.[16] All dies belegt klar, bei allen Unterschieden im Detail und auch der Konsistenz: Was für einzelne Länder, auch hochindustrialisierte, als Möglichkeit konkret beschrieben wird, ist prinzipiell überall möglich. Dies gilt umso mehr, als fast alle Szenarien und praktischen Konzepte zeigen, dass sie das breite Spektrum aller Optionen erneuerbarer Energien nicht im vollen bereits möglichen Umfang berücksichtigt haben, weil dies die Berechnungen kompliziert hätte.

      Ein auf die gesamte Welt bezogenes 100 Prozent-Szenario wurde 2009 in der Zeitschrift »Scientific American« von Mark Z. Jacobson von der Stanford University und Mark A. Delucchi von der University of California unter dem Titel »Plan for a Sustainable Future« veröffentlicht[17]. Es zielt auf eine vollständige Umstellung bis zum Jahr 2030. Dafür seien etwa 3,8 Mio. Windkraftanlagen mit jeweils 5 MW Kapazität; 490.000 Gezeitenkraftwerke zu je 1 MW; 5350 geothermische Kraftwerke zu je 100 MW; 900 große Wasserkraftwerke zu je 1.300 MW (wovon bereits 70Prozent existieren), 720.000 Wellenkraftwerke zu je 0,75 MW sowie 1,7 Mrd. Photovoltaikanlagen auf Dächern zu je 3 KW, 40.000 Photovoltaik-Kraftwerke zu je 300 MW und 49.000 solarthermische Kraftwerke zu je 300 MW erforderlich. Der Weltenergiebedarf im Jahr 2030 wird mit 16,9 TW veranschlagt, wenn er mit konventionellen Energien gedeckt würde – aber nur mit 11,5 TW unter der Bedingung erneuerbarer Energien, weil diese deutliche Effizienzvorteile haben, z.B. durch die Vermeidung von Energieverlusten bei Elektromobilen. Die Kosten pro Kilowattstunde wären im Vergleich zu den Kosten fossiler oder atomarer Energiebereitstellung niedriger. Die Bioenergie wird von Jacobson und Delucchi als Option ausgeschlossen, aufgrund ökologischer Befürchtungen für die landwirtschaftlichen Strukturen und wegen der anfallenden Emissionen. Als politisches Handlungsinstrument empfehlen sie ein »feed-in-tariff«-Konzept, wie es vor allem in Deutschland (und gegenwärtig etwa 50 anderen Ländern) praktiziert wird. Die wichtigste Aussage dieses Weltszenarios ist, dass die dafür aufzubringenden Investitionskosten bei 100 Billionen US-Dollar liegen würden. Diese Summe wird mit den weltweiten Ausgaben für Brennstoffe, Kraftstoffe und Strom verglichen, die im Jahr 2009 nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 5,5 und 7,75 Billionen US-Dollar lagen. Das bedeutet: Der Energiewechsel ist selbst dann die »wirtschaftlichere« Lösung, wenn nur die direkten Energiekosten konventioneller Energien berechnet werden und die externen Kosten in Form von Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschäden außer Betracht bleiben.

      Gleiches gilt für die im Juni 2010 von Greenpeace vorgelegte Studie »energy (r)evolution«[18]. Sie nimmt bis 2050 einen Weltbedarf von jährlich 13,2 TW an, der zu 95 Prozent von erneuerbaren Energien gedeckt würde. Der größte Beitrag unter den erneuerbaren Energien wird der Windkraft (24,7Prozent) zugerechnet, gefolgt von solarthermischen Kraftwerken (20,5 Prozent), photovoltaisch erzeugtem Strom (15 Prozent), Wasserkraft (11,6 Prozent), geothermischer Energie (9,7), Meeresenergie (4,4 Prozent) und Bioenergie (4,2 Prozent). Als Maßnahmen empfiehlt die Greenpeace-Studie Einspeisegesetze, die flexiblen Instrumente des Emissionshandels und die Beendigung der Energiesubventionen für fossile Energien und Atomenergie.

      Man darf keines der Szenarien wörtlich nehmen, als würde oder könnte es so wie beschrieben – also 1: 1 – realisiert werden. Die Prognostizierung der jeweiligen Prozentanteile erneuerbarer Energien, teilweise bis auf Ziffern nach dem Komma und über Zeiträume von mehreren Jahrzehnten hinweg, ist weder möglich noch nötig. Niemand kann die Kostenentwicklung, geschweige denn die Preisentwicklung der jeweiligen Technologien über so lange Zeiträume voraussagen, weil man deren Produktivitätskurve und Technologiesprünge und vor allem die potenziellen Akteure und ihre Motive nicht kennen kann. Niemand kann Investorenmotive nur nach technischen oder Kostenaspekten bewerten. Und niemand kann politische Entwicklungen voraussagen, die den Wechsel zu erneuerbaren Energien begünstigen oder erschweren, in eine dezentrale oder in eine zentralisierte Richtung lenken. Ebenso wenig liefern Szenarien Hilfestellung, wie Widerstände überwunden und Widersprüche zwischen verschiedenen Handlungsempfehlungen vermieden werden können. Mit anderen Worten: Szenarien sind kein Ersatz für politische Zielfindung und darauf bezogenes Handeln. Sicher ist, dass das Mischungsverhältnis der erneuerbaren Energien anders aussehen wird, als jedes Szenario vorhersagen kann.

      Nicht alle eingeführten Anlagen werden überdies den jeweils – der Einfachheit und Berechenbarkeit halber – errechneten Kapazitätsgrößen entsprechen. Eine Reihe von technischen Optionen bleibt deshalb auch in allen Großszenarien unberücksichtigt. Vor allem bleiben in allen auf ganze Staaten, auf Europa oder auf die Welt insgesamt bezogenen Szenarien die potenziell zahllosen Kleinanlagen außer Betracht, ob für Solarstrom, Windstrom, Wasserstrom, geothermische Energienutzung oder Anlagen für die kombinierte Erzeugung von Strom, Wärme und Kühlung – und ebenso die Potenziale integrierter Energiegewinnung in Gebäuden und Geräten und unterschiedlicher Speichermethoden. Sie sind aber diejenigen, die am schnellsten und sehr breit – weil unabhängig nutzbar – realisiert werden können und daher für den kulturellen Wandel der Energieversorgung stehen. Auffallend ist deshalb, dass die meisten auf ganze Länder bezogenen neueren Szenarien demgegenüber einen großräumigen internationalisierten Netzverbund vorsehen – mit Ausnahme des Szenarios »Regionenverbund« und »Lokal-Autark« des Umweltbundesamts und einer von drei vorgestellten Optionen des deutschen Sachverständigenrats für Umweltfragen. Ganz im Gegensatz zu Großverbundentwürfen stehen die kommunalen und regionalen 100 Prozent-Entwürfe und Initiativen, die bereits mitten in der praktischen Umsetzung sind.

      Wie also ein alle Energiebedürfnisse erfassender Wechsel zu erneuerbaren Energien tatsächlich realisiert wird – d.h. mit welchen Anteilen der jeweils zur Verfügung stehenden Technikoptionen, in welchen Kapazitätsgrößen und in welchem Land oder welcher Region –wird und kann sich erst im konkret praktizierten Energiewechsel herauskristallisieren. Der Vollzug des Energiewechsels wird jeweils von Land zu Land, von Region zu Region anders sein, je nach politischen, geografischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen. Alle Szenarien sind deshalb auf ihre Art Glasperlenspiele. Ihr Stellenwert ist ein anderer: Sie zeigen die prinzipielle technische und wirtschaftliche Realisierbarkeit einer Vollversorgung mit erneuerbaren Energien auf. Die praktische Realisierung selbst kann dann dank der wachsenden Vielfalt der Technologien und deren Produktivitätssteigerung nur noch günstiger und vor allem vielfältiger ausfallen.

      Damit sind solche Szenarien realistischer als diejenigen, die sogar von öffentlichen Institutionen – Forschungszentren und internationalen Energieorganisationen wie der IEA – für fossile Energien und die Atomenergie bis heute vorgelegt werden: Szenarien etwa, in denen fossile Energiereserven in Größenordnungen angenommen werden, für die es keine empirischen Belege gibt. Die zum Beispiel Atomanlagen wie den »Schnellen Brüter« in Zukunftsprojektionen einbeziehen, obwohl es bis heute keinen operationsfähigen Reaktor dieser Art gibt. Oder wenn, wie bereits erwähnt, die IEA den Bau neuer Atomreaktoren empfiehlt – ohne angeben zu können, woher die dafür erforderlichen Uranmengen kommen könnten und wie eine auf Dauer gesicherte Endlagerung der anfallenden gigantischen Atommüllmengen gewährleistet werden kann. Die von der IEA am 1. Juli 2010 veröffentlichten »Energy Technology Perspectives 2010« gehen sogar so weit, für die Weltenergieversorgung des Jahres 2050 einen Anteil von 19 Prozent durch CCS-Ansätze – mit weltweit 3000 Kraftwerken – zu prognostizieren, obwohl höchste Zweifel an der politischen und wirtschaftlichen Umsetzbarkeit dieser Technik bestehen. Und die Kernfusion, an der mit einem uferlosen Milliardenaufwand gearbeitet wird? Niemand weiß, ob sie jemals funktionieren wird, über ihre Risiken wird geschwiegen, und selbst ihre Befürworter sagen, dass sie nicht vor Mitte des 21. Jahrhunderts zur Verfügung

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